Internet – Segen oder Fluch
Wissenschaftszeitschrift
Nature
die Arbeit von John Donoghue von der Brown University in Rhode Island. Sein Team hatte mit Hilfe von Technologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt eine querschnittsgelähmte Frau einen Roboterarm steuern lassen, allein mit der Kraft ihrer Gedanken. Vergleichbare Experimente sind schon zuvor unternommen worden, aber in diesem Fall schaffte es die Frau, mit dem Roboterarm einen Becher anzusetzen und zu trinken. Marvin Minsky, ein Vordenker der künstlichen Intelligenz, malt sich die Zukunft der Beziehung zwischen Mensch und Maschine so aus: «Werden die Roboter die Erde übernehmen? Ja, aber sie werden unsere Kinder sein.»
Hängt man allerdings der Auffassung an, dass die Gesellschaft selbst eine Maschine ist, dann ist einigermaßen irrelevant, wie weit die Technologie in den Körper hineinwandert. Viel wichtiger als die Frage nach dem Umgang mit dieser oder jener Erfindung ist die Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Ideen, die dahinterstehen: Aufklärung vs. Romantik, automatische Weltverbesserung vs. doch keine, die Suche nach technischen Lösungen für soziale vs. die Suche nach sozialen Lösungen für technische Probleme. Eventuell verläuft die Kluft sogar im Wesentlichen zwischen denen, die den Menschen für eine – wenn auch sehr ausgefeilte – Maschine halten, und denen, die das nicht tun. In dem Fall wäre das Verständigungsproblem dasselbe wie das zwischen Atheisten und Religiösen: Beide Seiten halten für unübersehbar, dass die andere Seite unrecht hat, aber niemand kann etwas anderes als Glaubensargumente für die eigene Position vorbringen. Auf mehr als friedliche Koexistenz ist dann nicht zu hoffen.
In einigen Bereichen des täglichen Lebens ist es ganz schön, von ordentlichen Konfuzianisten umgeben zu sein. Im Umgang mit Ämtern wünschen sich die meisten, der Amtsapparat möge schnurren wie ein Uhrwerk und nicht so sehr wie eine dösende Katze. Wer Ämter bereits für einen Teil des großen rationalistischen Irrtums hält, kann stattdessen das Buch betrachten, das er vor sich hat und das – egal, ob als E-Book oder in seiner Papierform – nicht denkbar wäre ohne eine ganze Reihe technischer und sozialer Elemente, die zweifellos in die viereckige Welt der Unromantik gehören. Ideal [27] wäre eine Welt, in der man selbst das Leben eines daoistischen Weisen führen kann, während Bahnfahrpläne, innerstädtische Sprengarbeiten und die Chirurgie in den Händen humorloser Frühaufsteher und präzisionsgetriebener Sockenbügler liegen.
Weil das nicht für alle funktionieren kann, müssen die beiden Welten koexistieren, was sie durch einen günstigen Zufall auch bereits tun. Wir wollen jetzt gar nicht von der «Digitalen Bohème» anfangen, von der Holm Friebe und Sascha Lobo steil daherbehaupten [110] , sie überbrücke endlich die alte Kluft zwischen idealistischem Künstlergeist und dem rationalistischen, technikaffinen Bürgertum. Sondern verweisen stattdessen auf den britischen Anarchisten, Literatur- und Kunstkritiker Sir Herbert Edward Read, der 1934 in einem Aufsatz forderte, Maschinen dürfe man nur einem Volk anvertrauen, das vorher bei der Natur in die Lehre gegangen sei. Nur solche Leute brächten es fertig, Maschinen zu ersinnen und zu betreiben, die der Natur des Menschen entgegenkämen, anstatt sie zu verleugnen. Vergleicht man einen Computer von 1980 mit einem beliebigen aktuellen Produkt einer kalifornischen Firma, die hier ungenannt bleiben soll, dann sind die Geräte in den letzten Jahren der menschlichen Natur bereits recht weit entgegengekommen. Der Gründer der ungenannten Firma war Zen-Buddhist [111] und nahm im Laufe seines Lebens mehr als einmal LSD , was er mit vielen Schlüsselfiguren der frühen Internetgeschichte gemeinsam hat [112] . Die bloße Verwendung einer Maschine oder die Arbeit in einem maschinennahen Beruf implantiert noch niemandem automatisch ein Maschinenherz.
Die Digitalisierung färbt die Welt nicht schwarz-weiß, nur weil sie mit Nullen und Einsen zu tun hat, ebenso wenig wie Geigen den Konzertsaal in einen Schafstall verwandeln, nur weil sie mit Darmsaiten bespannt sind. Technik beantwortet nur die einfachen Fragen: Wie viel ist 6 mal 9 ? Wie bekomme ich das lästige Wasser aus meinem Kohlebergwerk? Gibt es das Higgs-Boson, das Neutralino, das Gravitino, Sleptonen und Squarks? Alle wirklich interessanten Probleme existieren nach der Erfindung neuer Techniken ungerührt weiter. Was
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