Interwelt
über die Barrikaden zu klettern.
Da der Zug nur noch sehr langsam vorwärtskam, hatte Wadsworth Zeit, diesen merkwürdigen Mann genauer zu betrachten. Togen waren in New York nicht ungewöhnlich – gut ein Dutzend Sekten trugen in diesem Jahr Togen. Das war es auch nicht, was dieses ungute Gefühl in Wadsworth hervorrief, sondern die Vermutung, daß der Mann mit seinem heftigen Winken ihn meinte. War er vielleicht einer seiner Gläubiger? Das konnte schon sein! Wadsworth schuldete Gott und der Welt Geld. Doch nie hatte er Kredit für sich selbst aufgenommen. O nein, immer für irgendeine gute Sache. Er war Vorsitzender des West Side Drogenkomitees gewesen, des Ausschusses für menschenwürdige Strafanstalten, außerdem Mitglied im Mieterschutzbund und in vielen anderen Vereinen und Bruderschaften. Aber das war alles im vergangenen Monat gewesen. Wenn er sich nur erinnern könnte, was er in diesem Monat getan hatte …
Der Kleine folgte dem Zug hinter den Barrikaden. Er winkte, deutete, rief. Wenn er sich bloß an ihn erinnern könnte, würde ihm vermutlich einfallen, wieviel er ihm schuldete. Er versuchte, sich ihn in einem normalen Straßenanzug vorzustellen, aber das half nichts. Er durfte sich nicht von ihm stellen lassen. Er, Wadsworth, unterschrieb nur Schecks, bezahlte nie mit seinem eigenen Geld – was auch nicht möglich gewesen wäre, weil er gar keines hatte.
Aber diese kleinen Männer, diese Hunderte von Gläubigern, wollten das nicht einsehen. Sie bestanden auf ihrem Geld! Wußten sie denn nicht, daß Geben seliger als Nehmen war?
Diesmal brauchte er sich nicht einmal anzustrengen, einem Gläubiger zu entkommen. Der Zug bog bereits um eine Ecke und marschierte ostwärts, fort von der Fifth Avenue und auf das UN-Gebäude zu. Spitzbart und Toga wurden von der Masse der Zuschauer verschluckt, und es war unwahrscheinlich, daß der Kleine ihn in diesem Gewühl wiederfinden würde. Endlich konnte er den Marsch richtig genießen, obwohl ihm eigentlich gar nicht gut war.
Aber vielleicht wurde es auch nichts mit dem Genießen, denn jetzt sah er, daß es vorn zu einem wilden Handgemenge gekommen war. Eine Bande Jugendlicher in schwarzen Lederjacken, mit Fahrradketten, Baseballschlägern und ähnlichen Utensilien bewaffnet, war über die Barrikaden gesprungen und hatte sich auf die Marschierenden gestürzt – und diese sich wiederum auf die Lederjacken. Polizisten und Nationalgardisten gingen in dem Getümmel schnell unter, und irgendwo begann eine Sirene wie eine kranke Kuh zu wimmern.
Lister fummelte in seiner Jackentasche.
»Messer?« erkundigte sich Wadsworth.
»Rosenkranz«, brummte Lister. »Höhere Macht.«
Wadsworth wollte etwas Kluges sagen, da umgaben ihn plötzlich Jeans und Schuhe. Aus seiner neuen, liegenden Stellung sah er Arme, Fäuste und Leiber über sich wogen. Kleinere Gruppen lösten sich aus dem großen Ganzen und schlossen sich ihm auf dem Bürgersteig an. Er begann, zwischen Füßen und Beinen hindurchzukriechen.
»Hierher!« forderte eine Stimme ihn auf.
Wadsworth folgte der einladenden Stimme und sah ein blondes Mädchen in schwarzer Bluse, das geschickt vor ihm herkroch. Offenbar kannte es sich aus, denn das Gewühl wurde allmählich weniger dicht und er konnte aufstehen.
»Clayt Wadsworth«, stellte er sich vor.
»Gloria Graham«, sagte sie.
Sie war etwa einsfünfundsechzig, hatte eine aufregende Figur und die grünsten Augen, die ihm je untergekommen waren. Eine kleine schwarze Tasche hing von ihrer Schulter. Er mußte den Blick von dem Mädchen reißen, um sich umzusehen.
Marschierer und Mob waren zu einem einzigen, aufgewühlten Haufen geworden. Der Zug sah nun wie ein tollwütiges Tier aus, das sich selbst verschlingen wollte.
Plötzlich entdeckte Wadsworth den Kleinen in der Toga wieder. Agil sprang er über Liegende und wand sich zwischen Kämpfenden hindurch. In einer Hand hielt er immer noch das Transistorradio, während die andere auch jetzt geradewegs auf ihn, Wadsworth, deutete.
Was manche nicht alles tun, nur um zu ihrem Geld zu kommen, dachte Wadsworth düster, doch dann lenkte die seltsame Maschine in der Hand des Kiemen seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Aus der Nähe sah sie gar nicht mehr einem Transistorradio ähnlich. Lämpchen blitzten an ihr, Leuchtzeiger schlugen aus, und selbst aus dieser Entfernung war ein unheimliches Klicken, wie von einem Geigerzähler, unüberhörbar. Eine Waffe?
Ein Polizist mußte es jedenfalls angenommen haben, denn er
Weitere Kostenlose Bücher