Intrige (German Edition)
die Schlösser in den Gartentüren mussten erneuert werden. Was für ein Stumpfsinn. Ich werde dafür sorgen, dass Sie einen neuen Schlüssel bekommen. Ich schätze Ihren Scharfsinn außerordentlich, mein Junge.« Er schüttelt mir die Hand. Sein Griff ist hart, trocken, schwielig. Zusätzlich umfasst er meine Hand noch mit seiner anderen. Ich fühle mich wie in einem Schraubstock. »Das ist nicht so einfach mit der Macht, Georges. Man muss den Mumm haben, harte Entscheidungen zu treffen. Ich habe das alles schon einmal erlebt. Heute großes Geschrei, Dreyfus, Dreyfus, Dreyfus, und morgen, wenn es keine neue Enthüllung gibt, ist alles wieder vergessen. Sie werden sehen.«
•
Billots Prophezeiung über Dreyfus und die Presse erweist sich als zutreffend. So plötzlich sich die Zeitungen wieder auf Dreyfus stürzten, so schnell erlahmt das Interesse an dem Gefangenen auf der Teufelsinsel auch wieder. Stattdessen füllen Geschichten über den Staatsbesuch des Zaren die Titelseiten, besonders Spekulationen darüber, welche Garderobe die Zarin wohl tragen wird. Aber ich vergesse ihn nicht.
Obwohl ich Desvernine mitteilen muss, dass wir die Dienste von Monsieur Lemercier-Picard nicht benötigen und unser Gesuch, Esterházy eine Falle stellen zu dürfen, abgelehnt wurde, betreibe ich die Nachforschungen weiter, so gut ich kann. Ich befrage einen Unteroffizier im Ruhestand, Mulot, der sich daran erinnert, Teile einer Schießvorschrift für den Major kopiert zu haben. Und ich spreche mit Hauptmann le Rond, der Esterházy an der Waffe ausgebildet hat. Er nennt seinen früheren Schüler einen Schuft: »Wenn ich ihm auf der Straße begegnen würde, würde ich ihm nicht die Hand schütteln.« All das wandert in meine Wohltäter-Akte. Wenn ich gelegentlich am Ende eines Arbeitstages die bislang zusammengetragenen Beweise durchgehe, das Petit Bleu, die Überwachungsfotos, die Zeugenaussagen, dann sage ich mir, dass ich ihn doch noch hinter Gittern sehen werde.
Einen neuen Schlüssel für den Garten des Hôtel de Brienne bekomme ich nicht. Wenn ich den Minister sprechen will, muss ich einen Termin vereinbaren. Und obwohl er mich immer herzlich empfängt, ist sein Verhalten mir gegenüber doch eindeutig reserviert. Das Gleiche gilt für Boisdeffre und Gonse. Ich habe nicht mehr ihr volles Vertrauen – zu Recht.
•
Am Morgen des vorletzten Septembertages gehe ich die Treppe zu meinem Büro hinauf, biege um die Ecke und sehe Major Henry, der in ein Gespräch mit Lauth und Gribelin vertieft ist. Er hat mir den Rücken zugewandt, aber seine breiten, massigen Schultern und der fette Nacken sind ge nauso unverkennbar wie sein Gesicht. Als Lauth mich sieht, wirft er ihm einen schnellen, warnenden Blick zu. Henry hört auf zu reden und dreht sich um. Die drei Offiziere salutieren.
»Meine Herren«, sage ich. »Schön, dass Sie wieder da sind, Major Henry. Wie war der Urlaub?«
Er sieht anders aus. Er hat etwas Sonne abbekommen – wie alle außer mir. Und er hat einen anderen Haarschnitt, kurze Stirnfransen. Jetzt sieht er nicht mehr wie ein verschlagener Bauer, sondern wie ein verschlagener Mönch aus. Und noch etwas hat sich verändert. Er strahlt frische Energie aus. Als hätten sich all die negativen Kräfte, die unsere kleine Einheit umgaben – der Argwohn, die Entfremdung, das Unbehagen –, in seiner korpulenten Gestalt konzentriert und ihn mit einer Art Elektrizität aufgeladen. Er ist ihr Anführer. Meine heikle Lage ist seine Chance. Er ist eine Gefahr für mich. All das geht mir in den wenigen Sekunden durch den Kopf, in denen er salutiert und mit einem Grinsen im Gesicht sagt: »Schön, Herr Oberstleutnant, danke der Nachfrage.«
»Ich muss Sie dann noch auf den neuesten Stand bringen.«
»Wann immer Sie wollen, Herr Oberstleutnant.«
Ich will ihn schon in mein Büro bitten, entscheide mich dann aber anders. »Wie wär’s, wenn wir nach Feierabend zusammen etwas trinken gehen?«
»Etwas trinken?«
»Sie sehen überrascht aus.«
»Na ja, wir sind noch nie zusammen etwas trinken gegangen.«
»Schlimm genug, oder? Wird Zeit, dass wir das nachholen. Sagen wir um fünf?«
Um fünf Uhr klopft er an meine Tür, ich nehme meine Mütze, und wir gehen hinaus auf die Straße. »Wohin möchten Sie?«, fragt er.
»Was schlagen Sie vor? Ich kenne mich mit den Bars hier in der Gegend nicht so aus.«
»Also ins Royale. Dann brauchen wir uns nicht lange den Kopf zu zerbrechen.«
Die Taverne Royale ist die Lieblingsbar der
Weitere Kostenlose Bücher