Intrige (German Edition)
nommen wurden, Dreyfus’ Haftbedingungen erheblich zu verschärfen. Seit drei Wochen wird er jeden Abend in Eisen gelegt. Die Strafkolonie in Cayenne hat sogar eine Zeichnung von der Vorrichtung geschickt, mit der er gefesselt wird. An seinem Bett sind zwei u-förmige Eisenbügel befestigt. Bei Sonnenuntergang werden seine Beine an den Knöcheln in die Bügel gelegt, durch die dann eine Stange geschoben wird, die wiederum mit einem Vorhängeschloss gesichert wird. In die ser Lage muss er bis Sonnenaufgang ausharren. Zusätzlich wurde rund um seine Hütte ein zweieinhalb Meter hoher Doppelzaun aus schweren Holzbalken errichtet. Der erste Zaun steht nur einen halben Meter von seinem Fenster entfernt, weshalb ihm der Blick auf das Meer versperrt ist. Tagsüber ist es ihm nicht mehr erlaubt, die Insel jenseits des zwei ten Zauns zu betreten. Der schmale Streifen zwischen den beiden Zäunen, Fels und Gestrüpp ohne Bäume und Schatten, ist jetzt die ganze Welt des Gefangenen.
Wie üblich ist der Akte ein Anhang mit Dreyfus’ konfiszierten Briefen beigeheftet:
Gestern Abend wurde ich in Eisen gelegt. Warum, weiß ich nicht. Seit ich hier bin, habe ich immer peinlich genau die Anweisungen befolgt, die man mir gegeben hat. Wie kann es sein, dass ich während der langen, grauenvollen Nacht nicht verrückt geworden bin? (7. September 1 8 9 6)
Diese Nächte in Eisen! Ich spreche gar nicht von den körperlichen Leiden, aber was für eine moralische Schmach, und das ohne jede Erklärung, ohne zu wissen, warum oder zu welchem Zweck! In was für einem grausamen Albtraum lebe ich nun schon seit fast zwei Jahren! (8. September)
In Eisen gelegt, wenn ich doch schon wie ein wildes Tier Tag und Nacht von einem mit Gewehr und Revolver bewaff neten Wachmann beobachtet werde! Nein, die Wahrheit muss gesagt werden. Dies ist keine Sicherheitsvorkehrung. Es ist eine Maßnahme des Hasses und der Folter, angeordnet aus Paris von denen, die, weil sie auf eine Familie nicht einschlagen können, auf einen unschuldigen Mann einschlagen, weil weder er noch seine Familie den schrecklichsten Justizirrtum, den es je gegeben hat, unterwürfig hinnehmen werden. (9. September)
Ich will nicht mehr weiterlesen. Ich habe selbst gesehen, was scheuernde Eisenfesseln einem Gefangenen antun können. Sie schneiden ihm bis auf die Knochen ins Fleisch. Die Qua len müssen in der insektenverseuchten Hitze der Tropen unerträglich sein. Für einen Augenblick verharrt mein Stift über den Seiten. Aber am Ende unterzeichne ich die Umlaufliste kommentarlos und schicke die Akte zurück ans Kolonialministerium.
•
Später nehme ich an einer Sitzung in Gonse’ Büro teil, die die letzten Details der Sicherheitsmaßnahmen für den Zarenbesuch abklären soll. Männer mit finsterer Miene aus dem Innen- und Außenministerium, von der Sûreté und aus dem Élysée-Palast, Männer, die die pompöse Selbstgefälligkeit derer zur Schau tragen, die für solche Dinge verantwortlich sind, sitzen um den Tisch herum und diskutieren jede Einzelheit der kaiserlichen Routenplanung.
Die russische Flottille wird am Montag um 1 3 Uhr von zwölf Panzerschiffen in den Hafen von Cherbourg geleitet. Der Präsident der Republik begrüßt den Zaren und die Zarin. Um 1 8 Uhr 3 0 findet ein Diner für siebzig Personen im Marine-Arsenal statt, bei dem General Boisdeffre am Tisch des Zaren sitzt. Am Dienstagmorgen um 8 Uhr 50 trifft der kaiserlich-russische Zug in Versailles ein. Die kaiserliche Gesellschaft steigt in den Zug des Präsidenten um und trifft um 1 0 Uhr am Gare du Ranelagh ein. Die Prozession in die Stadt benötigt für die zehn Kilometer eineinhalb Stunden: Zu ihrem Schutz sind 80 000 Soldaten abgestellt. Des Terrorismus verdächtige Personen sind entweder inhaftiert oder aus Paris abtransportiert worden. Nach dem Mittagessen in der russischen Botschaft besuchen der Zar und die Zarin die russisch-orthodoxe Kirche in der Rue Daru. 1 8 Uhr 3 0 Staatsbankett für zweihundertsiebzig Gäste im Élysée-Palast. 2 0 Uhr 3 0 Feuerwerk in den Jardins du Trocadéro, danach Galavorstellung in der Oper. Am Mittwoch …
Meine Gedanken schweifen immer wieder zu der in Ketten liegenden Gestalt auf der siebentausend Kilometer entfernten Teufelsinsel ab.
Als das Treffen beendet ist und alle Gonse’ Büro verlassen, bittet mich der General, noch einen Augenblick zu bleiben. Er könnte nicht freundlicher sein. »Ich habe nachgedacht, mein lieber Picquart. Wenn dieser russische Zirkus hier
Weitere Kostenlose Bücher