Intrige (German Edition)
sicher sein. Es ist allerdings eine Tatsache, dass es nie jemand erfahren wird, wenn Sie nichts sagen. «
Schließlich sind wir zum dunklen Kern der Sache vorgestoßen. Plötzlich kommt mir der Raum noch ruhiger vor. Gonse schaut mir unumwunden in die Augen. Ich nehme mir etwas Zeit, bevor ich antworte.
»Das ist ein widerwärtiger Vorschlag, Herr General. Sie können von mir nicht erwarten, dass ich dieses Geheimnis mit ins Grab nehme.«
»O doch, das kann ich sehr wohl, und ich tue es auch. Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen ist das Wesen unseres Berufs.«
Wieder Stille. Ich versuche es erneut. »Ich bitte nur darum, dass der Fall gründlich untersucht wird …«
»Nur!« Schließlich bricht es doch aus Gonse heraus. » Nur! Das gefällt mir! Ich verstehe Sie nicht, Picquart! Was wollen Sie? Dass die gesamte Armee – also eigentlich die gesamte Nation! – sich nur um Ihr empfindliches Gewissen dreht? Ihre Arroganz ist ziemlich beeindruckend, das muss ich schon sagen!« Sein fetter Hals läuft leuchtend rosa an. Er sieht aus wie ein prall aufgepumpter Gummischlauch, der über den Kragen seines Uniformrocks quillt. Er ist entsetzt. Plötzlich wird sein Ton geschäftsmäßig. »Wo ist das Geheim dossier jetzt?«
»In meinem Tresor.«
»Und Sie haben über den Inhalt mit sonst niemand gesprochen?«
»Natürlich nicht.«
»Haben Sie Kopien gemacht?«
»Nein.«
»Und Sie sind auch nicht die undichte Stelle, die die Zeitungen beliefert?«
»Wenn ich es wäre, würde ich es wohl kaum zugeben, oder?« Ich kann die Verachtung in meiner Stimme nicht mehr zügeln. »Aber wenn Sie mich schon fragen, die Antwort ist nein.«
»Werden Sie nicht unverschämt!« Gonse steht auf. Ich stehe ebenfalls auf. »Wir sind hier in der Armee, Herr Oberst leutnant, nicht in einem Debattierklub für ethische Fragen. Der Kriegsminister erteilt dem Chef des Generalstabs Befehle, der Chef des Generalstabs erteilt mir Befehle, und ich erteile Ihnen Befehle. Ich befehle Ihnen hiermit offiziell, und zwar zum letzten Mal, keinerlei Nachforschungen anzustellen, die in Zusammenhang mit dem Fall Dreyfus stehen, nichts dar über an wen auch immer weiterzugeben, der nicht autorisiert ist, diese Informationen zu erhalten. Gott stehe Ihnen bei, wenn Sie diesen Befehl missachten. Haben Sie verstanden?«
Ich kann mich nicht zu einer Antwort überwinden. Ich salutiere, drehe mich auf dem Absatz um und gehe aus dem Zimmer.
•
Als ich ins Büro zurückkomme, sagt mir Capiaux, dass im Warteraum Desvernine mit dem Fälscher Lemercier-Picard sitze. Nach der Auseinandersetzung mit Gonse ist ein Vorstellungsgespräch mit einer Kreatur wie dieser das Letzte, wonach mir der Sinn steht, aber wegschicken will ich ihn auch nicht.
Als ich den Warteraum betrete, erkenne ich ihn sofort als einen aus der kleinen Gruppe von Kartenspielern und Pfeifenrauchern wieder, die ich zusammen mit Guénée an meinem ersten Morgen gesehen habe. Der Name Moisés Lehmann passt besser zu ihm als Lemercier-Picard. Er ist klein und sieht jüdisch aus, duftet nach Eau de Cologne, platzt vor Charme und Selbstbewusstsein und ist ganz scharf darauf, mich mit seinen Fertigkeiten zu beeindrucken. Er beschwatzt mich gleich, drei oder vier Sätze auf ein Blatt Papier zu schrei ben. »Na los, Herr Oberstleutnant, was soll schon passieren?« Nach ein paar Übungssätzen gelingt ihm schließlich eine passable Kopie meiner Handschrift. »Der Trick ist die Geschwindigkeit«, sagt er. »Man muss das Wesen der Schrift erfassen, sich in ihren Charakter hineinversetzen und dann ganz natürlich schreiben. Sie haben eine sehr künstlerische Handschrift, Herr Oberstleutnant, sehr verschwiegen, sehr introspektiv, wenn ich so sagen darf.«
»Das reicht jetzt, Moisés«, sagt Desvernine und tut so, als hielte er sich die Ohren zu. »Der Herr Oberstleutnant hat keine Zeit für deinen Unsinn. Du kannst jetzt wieder verschwinden. Warte im Entree auf mich.«
Der Fälscher schaut mich grinsend an. »War mir ein Vergnügen, Herr Oberstleutnant.«
»Ganz meinerseits. Und wenn ich jetzt um das Blatt Papier mit meiner Handschrift bitten dürfte?«
»Ah, richtig«, sagt er und zieht es aus seiner Jackentasche. »Hätte ich fast vergessen.«
»Da ist noch was, das Sie wissen sollten«, sagt Desvernine, nachdem der Fälscher gegangen ist. »Esterházy hat sich anscheinend aus dem Staub gemacht. Er und seine Frau sind völlig überstürzt aus der Wohnung in der Rue de la Bienfaisance
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