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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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mein Büro zurück.
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    Die Sonne geht kurz nach sieben unter. Um acht ist es zum Lesen schon zu dunkel. Ich lasse meine Lampe ausge schaltet.
    Das Gebälk des alten Gebäudes schrumpft und knarzt, wenn der Tag der Kühle der Nacht weicht. Die Vögel im Garten des Ministers verstummen. Die Schatten nehmen feste geometrische Formen an. Ich sitze an meinem Schreib tisch und warte. Wenn es eine Tageszeit geben sollte, in der die Geister von Voltaire und Montesquieu erscheinen, dann diese. Als ich um halb neun meine Tür öffne, rechne ich fast damit, dass eine Perücke und eine Samtjacke durch den Gang schweben. Aber das alte Gebäude liegt verlas sen da. Alle sind in die Jardins du Trocadéro gezogen, um sich das Feuerwerk anzuschauen, sogar Capiaux. Die Vordertür ist abgeschlossen. Ich habe das Haus für mich allein.
    Aus meiner Schublade nehme ich die Lederrolle mit den Einbruchswerkzeugen, die mir Desvernine schon vor Monaten dagelassen hat. Während ich die Treppe hinaufgehe, wird mir die Absurdität meiner Lage bewusst: dass ich als Chef des Nachrichtendienstes genötigt bin, ins Archiv meiner eigenen Abteilung einzubrechen, ist bizarr. Ich habe das Problem rational aus jedem Blickwinkel durchdacht, aber mir ist keine bessere Lösung eingefallen. Zumindest ist es einen Versuch wert.
    Ich knie mich vor Gribelins Tür auf den Boden. Die erste Erkenntnis ist die, dass das Knacken eines Schlosses einfacher ist, als man meint. Als ich erst einmal den Bogen heraus habe und weiß, welches Werkzeug das passende ist, schaffe ich es auch, die Einkerbung in der Unterseite des Sperrriegels zu finden. Jetzt muss ich nur noch drücken. Dann mit der linken Hand den Druck beibehalten, mit der rechten Hand den Dietrich einführen und so lange herumhantieren, bis ich die Stifte anheben kann. Einer hebt sich, dann der zweite, schließlich der dritte. Der Schlosskern gleitet nach vorn, ein gut geöltes Klicken ist zu hören, die Tür öffnet sich.
    Ich schalte das elektrische Licht an. Es würde mich Stunden kosten, alle Schlösser in Gribelins Archiv zu knacken. Aber ich weiß, wo er seine Schlüssel aufbewahrt, im Schreibtisch in der untersten Schublade links. Nach zehn Minuten geduldigem Herumprobieren habe ich das passende Werkzeug gefunden. Ich öffne die Schublade. Die Schlüssel sind darin.
    Plötzlich höre ich einen so lauten Knall, dass mein Herz einen Satz macht. Ich schaue aus dem Fenster. Die Scheinwerfer auf der Spitze des einen Kilometer entfernten Eiffelturms leuchten über die Seine bis zur Place de la Concorde. Die Strahlen sind von lautlos platzenden, pulsierenden und blitzenden Sternen umgeben. Ein, zwei Sekunden später folgen die Explosionen, die so laut sind, dass die Fens ter scheiben in ihren uralten Rahmen zittern. Ich schaue auf meine Uhr. Neun Uhr. Sie sind eine halbe Stunde zu spät dran. Das Feuerwerk soll mindestens dreißig Minuten dauern.
    Ich nehme Gribelins Schlüsselbund und versuche den mir nächsten Aktenschrank zu öffnen.
    Als ich herausgefunden habe, welche Schlüssel zu welchem Schloss passen, öffne ich nacheinander alle Schubladen. Meine erste Priorität ist das Material von Agent Auguste, jeder Schnipsel, den ich finden kann.
    Die zusammengeklebten Schriftstücke beginnen schon zu vergilben. Sie rascheln wie trockenes Laub, als ich sie zu Stapeln aufschichte: Briefe und Telegramme von Hauptmann Dame in Berlin, die mit seinem Decknamen Dufour unterzeichnet sind; Briefe an Schwartzkoppen vom deutschen Botschafter Graf Münster, an Panizzardi vom italienischen Botschafter Signor Ressmann und an den Militärattaché von Österreich-Ungarn, Oberst Schneider. Ich finde einen vom November 18 9 0 datierten Umschlag voller Asche, Briefe an Schwartzkoppen vom italienischen Marineattaché Rosse lini und vom britischen Militärattaché Oberst Talbot, außer dem die vierzig oder fünfzig Liebesbriefe von Hermance de Weede – Mein lieber verehrter Freund … Mein Maxi … – und vielleicht halb so viele von Panizzardi – Mein kleiner Liebling … Mein großer Kater … Mein starker geliebter Rammler …
    Es hat einmal eine Zeit gegeben, da hätte ich mich unwohl, sogar schmuddelig gefühlt, wenn ich mich mit derart intimen Dingen abgegeben hätte. Das ist vorbei.
    Unter all den Botschaften findet sich auch ein verschlüs seltes Telegramm von Panizzardi an den Generalstab in Rom, das am Freitagmorgen, dem 2 . November 1 8 9 4, um drei Uhr abgeschickt wurde:
    Commando stato maggiore Roma
    9 1 3 44 7

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