Intrige (German Edition)
Gericht verantworten musste, war der Statistik-Abteilung klar, dass die Wendung »dieser Lump D« sich unmöglich auf Dreyfus beziehen konnte, weil sie wussten, dass Panizzardi noch nie von ihm gehört hatte. Es sei denn, er hatte seine Vorgesetzten belogen. Aber warum hätte er das tun sollen?
»Und es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Sie am Ende der ganzen Prozedur die korrekte Version ans Kriegsministerium weitergeleitet haben?«, frage ich.
»Nicht der geringste. Billecocq hatte von mir den Auftrag, sie eigenhändig abzugeben.«
»Können Sie sich noch erinnern, an wen Sie den entschlüsselten Text übergeben haben?«, frage ich Billecocq.
»Ja, Herr Oberstleutnant, ganz genau sogar«, sagt er. »Weil ich nämlich den Umschlag dem Minister persönlich übergeben habe, General Mercier.«
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Ich gehe zurück in die Statistik-Abteilung. Als ich mich meinem Büro nähere, rieche ich Zigarettenrauch, und als ich die Tür öffne, sitzt General Gonse an meinem Schreibtisch. Henry lehnt mit seinem breiten Hinterteil an der Tischkante.
»Sie sind lange aus gewesen«, sagt Gonse fröhlich.
»Ich wusste nicht, dass wir eine Verabredung hatten.«
»Hatten wir auch nicht. Ich dachte mir einfach, schau mal vorbei.«
»Das ist das erste Mal.«
»Ach? Vielleicht hätte ich das öfter tun sollen. Was für eine kleine Sonderoperation Sie doch hier am Laufen haben.« Er streckt mir die Hand entgegen. »Wenn Sie gestatten, nehme ich das Geheimdossier über Dreyfus an mich.«
»Natürlich. Darf ich fragen, warum?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Ich würde gern Einwände erheben. Ich schaue zu Henry. Er hebt leicht die Augenbrauen.
Sie müssen tun, was die von Ihnen verlangen, Herr Oberstleutnant. Die sind die Chefs.
Langsam bücke ich mich zum Tresor hinunter und suche dabei krampfhaft nach einer Ausrede, um mich widersetzen zu können. Ich öffne den Tresor, nehme den mit D gekenn zeichneten Umschlag heraus und gebe ihn widerwillig Gonse. Er klappt die Lasche auf und blättert schnell durch den Inhalt.
»Und, alles da?«, frage ich spitz.
»Das hoffe ich für Sie!« Gonse lächelt mich an – das Lächeln ist eine rein mechanische Verschiebung seiner unteren Gesichtshälfte, ohne den geringsten Anflug von Humor. »Angesichts Ihrer bevorstehenden Inspektionsreise müssen wir noch einige administrative Änderungen vornehmen. Ab sofort wird Major Henry das gesamte Material von Agent Auguste direkt an mich übergeben.«
»Aber das ist unsere wichtigste Quelle!«
»Ja, und deshalb ist es nur folgerichtig, dass mir als Leiter des Geheimdienstes das Material direkt zugeleitet wird. Sind Sie damit einverstanden, Henry?«
»Wie Sie wünschen, Herr General.«
»Heißt das, ich bin von meinen Aufgaben entbunden?«
»Natürlich nicht, mein lieber Picquart! Das ist einfach eine Neuordnung der Kompetenzen zur Steigerung unserer Effizienz. Alles andere bleibt in Ihrer Verantwortung. Also, das wäre geklärt.« Gonse steht auf und drückt seine Zigarette aus. »Wir sprechen uns bald, Herr Oberstleutnant.« Er hält das Dossier mit verschränkten Armen vor der Brust. »Keine Sorge, ich werde mich sehr gut um unser kostbares Stück kümmern.«
Nachdem er gegangen ist, schaut Henry mich an. Er zuckt entschuldigend mit den Achseln. »Sie hätten auf meinen Rat hören sollen«, sagt er.
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Ich weiß von Leuten, die in der Rue de la Roquette öffentlichen Hinrichtungen beigewohnt haben, dass die guillotinierten Köpfe der Verurteilten noch Lebenszeichen von sich geben. Die Backen zucken. Die Augen blinzeln. Die Lippen bewegen sich.
Ich frage mich, ob die abgeschlagenen Köpfe auch noch kurz der Illusion nachhängen, sie würden noch leben. Sehen sie die Menschen, die auf sie hinunterschauen, und bilden sie sich für die ein oder zwei Augenblicke vor dem Sturz in die Dunkelheit ein, sie könnten sich noch verständigen?
So geht es mir nach meinem Gespräch mit Gonse. Ich gehe weiter zu üblicher Stunde ins Büro, als würde ich noch leben. Ich lese Berichte. Ich korrespondiere mit Agenten. Ich halte Sitzungen ab. Ich schreibe meinen wöchentlichen Blanc für den Chef des Generalstabs: Die Deutschen planen Militärmanöver in Elsass-Lothringen, sie setzen verstärkt Hunde ein, sie verlegen nahe der Grenze in Büssing eine Telefonleitung. Aber da spricht nur noch ein toter Mann. Fak tisch hat sich die Leitung der Statistik-Abteilung auf die andere Straßenseite verlagert, ins Ministerium, wo regelmäßige Besprechungen
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