Intrige (German Edition)
zwischen Gonse und meinen Offizieren Henry, Lauth und Gribelin stattfinden. Ich höre, wenn sie gehen. Ich spitze die Ohren, wenn sie zurückkommen. Sie haben irgendetwas vor, aber ich kann nicht herausbekommen, was es ist.
Meine eigenen Möglichkeiten scheinen gleich null zu sein. Meinen Vorgesetzten kann ich nicht mehr berichten, was ich weiß, seit ich annehmen muss, dass sie schon alles wissen. Ein paar Tage denke ich daran, mich direkt an den Präsidenten zu wenden. Aber dann lese ich seine jüngste, in Anwesenheit von General Billot gehaltene Rede: »Die Armee ist das Herz und die Seele der Nation, der Spiegel, in dem Frankreich das vollkommenste Ideal seiner Selbstzucht und seines Patriotismus erblickt. In den Gedanken der Regierung und in der Wertschätzung des Landes steht die Armee an erster Stelle.« Mir wird klar, dass er sich für einen verhassten Juden niemals auf einen Kampf gegen das Herz und die Seele der Nation einlassen würde. Auch kann ich meine Entdeckungen natürlich mit niemand außerhalb der Regierung teilen – einem Senator, Richter oder Zeitungsredakteur –, ohne unsere vertraulichsten Geheimdienstquellen zu verraten. Das Gleiche gilt für die Dreyfus-Familie, die außerdem Tag und Nacht von der Sûreté beschattet wird.
Und vor allem schrecke ich davor zurück, die Armee zu verraten: mein Herz und meine Seele, mein Spiegel, mein Ideal.
Gelähmt warte ich darauf, dass etwas passiert.
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Ich bin an einem frühen Morgen im November auf dem Weg ins Büro, als es mir an einem Zeitungsstand an der Ecke zur Avenue Kléber ins Auge springt. Ich will gerade vom Bordstein auf die Straße treten. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Genau in der Mitte der Titelseite von Le Matin prangt eine Kopie des Bordereaus.
Ich schaue mir die Leute an, die lesend auf der Straße stehen. Mein erster Gedanke ist, jedem die Zeitung aus der Hand zu reißen. Wissen die nicht, dass das ein Staatsgeheimnis ist? Ich kaufe eine Zeitung und ziehe mich in einen Hauseingang zurück. Das Bild im Maßstab 1 : 1 ist eindeutig ein Abzug von Lauths Fotografien. Die Überschrift des Artikels lautet »Der Beweis«, der Ton ist durchgehend feindselig gegenüber Dreyfus. Sofort kommt mir der Gedanke, dass der Artikel sich liest, wie wenn er von einem der Handschriftenexperten der Anklage geschrieben wurde. Der Zeitpunkt passt. Lazares Pamphlet unter dem Titel »Ein Justizirrtum: Die Wahrheit über die Dreyfus-Affäre« ist vor drei Tagen veröffentlicht worden. Es enthält eine wütende Attacke auf die Grafologen. Sie haben alle ein berufliches Interesse daran, die Leute weiter in dem Glauben zu lassen, dass Dreyfus der Autor des Bordereaus ist, sprich, sie haben sich alle an ihre Kopien geklammert.
Ich winke mir eine Droschke heran, um so schnell wie möglich ins Büro zu kommen. Dort herrscht Grabesstimmung. Obwohl der Artikel Dreyfus’ Verurteilung zu rechtfertigen scheint, bedeutet er für die Abteilung doch eine Katastrophe. Wie ganz Paris kann jetzt auch Schwartzkoppen zum Frühstück den Bordereau lesen. Er weiß jetzt, dass sich seine private Korrespondenz in den Händen der französischen Regierung befindet, wird sich erst einmal verschlu cken und dann wahrscheinlich herauszufinden versuchen, auf welchem Weg sie zu den Franzosen gelangt ist. Gut möglich, dass damit die lange Laufbahn von Agent Auguste beendet ist. Und was ist mit Esterházy? Zumindest der Gedanke, wie er wohl darauf reagiert, dass seine Handschrift jeden Zeitungsstand der Stadt schmückt, bereitet mir ein bisschen Vergnügen. Umso mehr, als am Spätvormittag Desvernine in meinem Büro auftaucht und berichtet, dass der Verräter gerade barhäuptig aus der Wohnung der Vier-Finger-Marguerite in den stürmischen Regen gestürzt sei, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.
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Ich werde zu General Billot zitiert. Er schickt einen Hauptmann mit der Botschaft, dass ich sofort in sein Büro kommen solle.
Ich würde gern etwas Zeit herausschinden, um mich auf diese Tortur vorzubereiten. »Ich komme gleich. Sagen Sie ihm, ich bin schon unterwegs.«
»Tut mir leid, Herr Oberstleutnant. Ich habe den Befehl, Sie sofort zu ihm zu bringen.«
Ich nehme meine Uniformmütze vom Hutständer. Als ich hinaus auf den Gang trete, sehe ich Henry, der sich vor seinem Büro mit Lauth herumdrückt. Etwas an ihrer Kör perhaltung – eine Mischung aus Gerissenheit, Neugier und Triumph – sagt mir, dass sie schon vorher von meinem Befehl zum Rapport wussten und
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