Intrige (German Edition)
Worte verstehen kann. Esterházy …? Dreyfus …? Verschleierte Dame …? Untersuchung …? Ein greller Lichtblitz leuchtet auf, ich höre den dumpfen Knall von sich entzündendem Magnesiumpulver. Aber wir gehen zu schnell. Unmöglich, dass sie auch nur eine einzige brauchbare Fotografie zustande bringen. Ein paar Meter weiter stehen ein paar Bahnbeamte mit ausgebreiteten Armen, die uns in einen leeren Wartesaal bugsieren und sofort die Tür schlie ßen. Dort wartet mein alter Freund Armand Mercier-Milon, den man inzwischen zum Oberst befördert hat, und salutiert sehr förmlich.
»Armand«, sage ich. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, dich zu sehen.« Ich strecke ihm die Hand hin, aber anstatt sie zu schütteln, deutet er nur zur Tür.
»Ein Automobil wartet auf uns«, sagt er. »Lass uns gleich fahren, sonst ist die Meute vor uns am Haupteingang.«
Vor der Tür steht ein großer moderner Wagen mit dem Schriftzug der Compagnie Paris-Lyon-Méditerranée. Ich steige hinten ein, links und rechts werde ich von Périer und Mercier- Milon eingekeilt. Nachdem das Gepäck verstaut ist, setzt sich der Wagen genau in dem Moment in Bewegung, als die Journalisten aus dem Bahnhof strömen und auf uns zulaufen. »Ich habe hier einen Brief vom Chef des Generalstabs für dich«, sagt Mercier-Milon.
Es ist so eng, dass ich mich ziemlich verrenken muss, um das Kuvert öffnen zu können. Oberstleutnant Picquart, ich erteile Ihnen hiermit den ausdrücklichen Befehl, mit niemand in Kontakt zu treten, bevor Sie nicht im Rahmen von General de Pellieux’ Untersuchung Ihre Aussage gemacht haben. Boisdeffre.
Wir fahren schnell durch die dunklen regennassen Straßen. Keiner sagt ein Wort. Um diese Stunde herrscht kein Verkehr, es sind kaum Menschen zu sehen. Wir fahren in westlicher Richtung über den Boulevard Saint-Martin, und ich frage mich schon, ob sie mich zu meiner Wohnung bringen, als wir plötzlich abbiegen, in Richtung Norden weiterfahren und schließlich vor dem riesigen Hôtel Terminus in der Rue Saint-Lazare anhalten. Der Portier öffnet die Wagentür. Périer steigt als Erster aus. »Ich gehe schon vor und melde uns an«, sagt er.
»Hier wohne ich?«
»Vorerst, ja.«
Er verschwindet im Foyer. Ich steige aus und betrachte die gewaltige Fassade. Das Hotel nimmt ein ganzes Karree ein. Fünfhundert Zimmer. Ein Tempel der Moderne. Die elektrischen Lichter glitzern im Regen. Mercier-Milon steigt nach mir aus. Zum ersten Mal befindet sich niemand sonst in Hörweite. »Georges, du verdammter Idiot. Was hast du dir nur dabei gedacht?« Er spricht leise, aber mit Nachdruck. Ich spüre, dass ihm das schon auf der Zunge brennt, seit wir den Bahnhof verlassen haben. »Dreyfus tut mir ja auch leid. Immerhin war ich einer der wenigen, die ihn bei dieser Farce von Kriegsgericht verteidigt haben. Und du? Gibst geheime Informationen an einen Außenstehenden weiter, damit der sie gegen deine Vorgesetzten einsetzt. Für mich ist das ein Verbrechen. Ich bezweifele, ob auch nur ein einziger Soldat in ganz Frankreich verteidigt, was du getan hast.«
Seine Heftigkeit erschüttert mich und macht mich wütend. »Was passiert als Nächstes?«
»Du gehst auf dein Zimmer und ziehst deine Uniform an. Du sprichst mit niemand. Du schreibst niemand. Du öffnest keine Briefe. Ich bin im Foyer. Ich hole dich um neun ab und begleite dich zur Place Vendôme.«
Périer erscheint in der Eingangstür. »Oberstleutnant Picquart? Unser Zimmer ist fertig.«
» Unser Zimmer? Meinen Sie damit, wir wohnen in einem Zimmer?«
»Leider ja.«
Ich versuche diese Demütigung auf die leichte Schulter zu nehmen – »Die Hingabe an Ihre Pflicht, Monsieur Périer, ist in der Tat vorbildlich« – und begreife im selben Augenblick, dass er natürlich kein Beamter des Kolonialministeriums ist, sondern ein Geheimpolizist der Sûreté.
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Nur einmal, als ich ein Bad nehme, lässt er mich aus den Augen. Während ich in der Wanne liege, höre ich ihn im Zim mer umhergehen. Als es an der Zimmertür klopft, macht er auf und lässt jemand herein. Ich höre tiefe Stimmen und denke, wie wehrlos ich wäre, wenn jetzt zwei Männer hereinkämen und mich an den Fesseln packten. Ertrunken in der Badewanne, ganz simpel. In ein paar Minuten erledigt und kaum verräterische Spuren.
»Ihr Frühstück ist da, Herr Oberstleutnant«, ruft Périer – wenn er denn so heißt – durch die Tür.
Ich steige aus der Wanne, trockne mich ab und ziehe die Uniform des 4 .
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