Intrige (German Edition)
nach Marseille und wieder zurück fährt, wird das nach einer gewissen Zeit wohl langweilig. Er salutiert, ich salutiere. »Man hat Vorkehrungen getroffen, dass Sie und Mon sieur Périer von Bord gehen, bevor wir anlegen«, sagt er.
»Ist das wirklich nötig?«
»Anscheinend warten am Kai schon jede Menge Reporter und ein paar Demonstranten auf Sie. Der Kriegsminister hält es für sicherer, wenn Sie hier draußen auf einen Schlepper umsteigen, der Sie dann in einem anderen Teil des Hafens absetzt.«
»Absurd.«
»Schon möglich«, sagt der Kapitän achselzuckend. »Aber ich habe meine Befehle.«
Eine halbe Stunde später verstummt das Stampfen der Maschinen, und wir drehen bei. Ich gehe mit meinem Koffer in der Hand an Deck. Wir befinden uns etwa einen halben Kilometer vor der Hafeneinfahrt. Längsseits liegt ein Schlepper. Es ist kalt, ein böiger Wind weht, was aber mehrere Dutzend Passagiere nicht davon abhält, finster schweigend zu beobachten, wie ich von Bord gehe. Ich erlebe zum ersten Mal, wie man sich fühlt, wenn man berühmt ist. Eine außerordentlich unangenehme Erfahrung. Eine kräftige Welle drückt die beiden Schiffe gegeneinander, wobei das eine Deck sich hebt, das andere nach unten wegsackt. Man nimmt mir meinen Koffer ab, wirft ihn nach unten auf das Deck des Schleppers, wo er aufgefangen wird, dann packen mich kräftige Arme und setzen mich auch ab. Von Bord der Fähre schleudert mir jemand eine Beleidigung hinterher. Ich höre nur das Wort Jude, den Rest verschluckt der Wind. Mon sieur Périer wird samt seinem Gepäck an Deck des Schleppers gehoben. Er taumelt zur anderen Seite des Boots und übergibt sich. Die Leinen werden losgemacht, der Schlepper löst sich von der Schiffswand.
Wir tuckern an der Hafenmauer vorbei, drehen nach Backbord und halten zwischen zwei vor Anker liegenden Panzerschiffen hindurch auf den westlichen Teil des Hafens zu. Als ich über das Heck des Schleppers an Land schaue, sehe ich, dass sich an der Anlegestelle für die Fähren mindestens ein- oder zweihundert Menschen versammelt haben. Zum ersten Mal erhalte ich einen flüchtigen Eindruck davon, wie die Dreyfus-Affäre allmählich in die Vorstellungswelt meiner Landsleute eindringt. Der Schlepper tastet sich an einen Marinekai heran, wo schon eine Droschke war tet. Daneben steht ein junger Offizier. Als die Mannschaft von Bord springt, um das Boot festzumachen, tritt er vor und nimmt mir den Koffer ab. Er gibt ihn dem Kutscher, dann reicht er mir die Hand, um mir an Land zu helfen.
Er salutiert. Sein Auftreten ist kühl, aber untadelig. In der Kutsche setzt er sich mir und Périer gegenüber. »Wenn Sie erlauben, Herr Oberstleutnant«, sagt er. »Ich würde vorschlagen, dass Sie sich so weit wie möglich nach unten ducken, zumindest so lange, bis wir das Hafengelände hinter uns gelassen haben.«
Ich befolge seinen Rat. Und so kehre ich wie ein gejagter Verbrecher nach Frankreich zurück.
•
Im Bahnhof ist am Ende des Zuges ein Erste-Klasse-Abteil für uns reserviert. Périer zieht die Rouleaus an Tür und Fenstern herunter und erlaubt mir nicht, dass ich das Abteil verlasse und mir eine Zeitung kaufe. Wenn ich auf die Toilette muss, besteht er darauf, mich zu begleiten und vor der Tür zu warten, bis ich fertig bin. Gelegentlich frage ich mich, was er tun würde, wenn ich seine Anordnungen, die er immer in nervösem, verlegenem, fast flehendem Ton vorträgt, nicht befolgen würde. Aber in Wahrheit bin ich in einem seltsamen Fatalismus gefangen. Ich füge mich in die Ereignisse und ziehe mich in den schaukelnden Kokon des Zuges zurück, der Marseille um fünf Uhr nachmittags im Dunkeln verlässt und am nächsten Morgen um fünf Uhr im dunklen Paris eintrifft.
Ich schlafe, als wir im Gare de Lyon ankommen. Ruckar tig kommt der Zug zum Stehen. Ich wache auf und sehe, dass Périer am Fensterrouleau vorbei nach draußen lugt. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Oberstleutnant, warten wir noch, bis die anderen Fahrgäste ausgestiegen sind.« Zehn Minuten später betreten wir den menschenleeren Perron. Ein Gepäckträger karrt die Koffer vor uns her, während wir am Zug entlang bis zu der Sperre gehen, wo uns ein Dutzend Männer mit Notizbüchern erwartet. »Kein Wort zu denen«, sagt Périer. Wir halten unsere Hüte fest, als bliese uns ein scharfer Gegenwind ins Gesicht, und gehen leicht vorgebeugt an den Journalisten vorbei. Die Fragen prasseln alle gleichzeitig auf uns ein, sodass ich nur einige vereinzelte
Weitere Kostenlose Bücher