Intrige (German Edition)
umschaue, ist alles an seinem Platz.
»Holen Sie mir Wasser«, sage ich knapp. »Ich will baden.«
»Ja, Herr Oberstleutnant.«
Als ich den Militärklub betrete, ist es schon zu spät für das Mittagessen. Ich merke sofort, dass etwas Bedeutsames passiert sein muss. Die Unterhaltungen verstummen, als ich zu meinem angestammten Platz gehe. Einige der älteren Offiziere trinken ihr Glas aus und gehen. Man hat mir de monstrativ die aktuelle Ausgabe von La Dépêche auf den Sessel gelegt. Sie ist so gefaltet, dass ich als Erstes eine Geschichte auf der Titelseite sehen muss.
Esterházy BESCHULDIGT OBERSTLEUTNANT PICQUART . Paris, 1 0. 3 5 Uhr. In einem Interview mit Le Matin erklärt Esterházy: »Für alles, was passiert ist, trägt Oberstleutnant Picquart die Verantwortung. Er ist ein Freund der Familie Dreyfus. Er hat vor fünfzehn Monaten, als er im Kriegsministerium Dienst tat, eine Untersuchung gegen mich eingeleitet. Er wollte mich ruinieren. Auguste Scheurer-Kestner hat seine Informationen von Picquarts Anwalt erhalten, Maître Leblois, dem im Büro des Oberstleutnants Einsicht in geheime Akten gewährt wurde. Die Vorgesetzten des Oberstleutnants bewerteten sein Fehlverhalten als so gravierend, dass sie ihn nach Tunesien strafversetzt haben.«
Ich habe meinen Namen noch nie in der Zeitung gesehen. Ich stelle mir vor, wie alle Menschen, die ich kenne, meine Freunde und meine Familie in Frankreich, das nichts ahnend lesen. Was werden sie denken? Ich soll ein Spion sein, eine zwielichtige Gestalt. Ein Scheinwerfer strahlt mich an.
Und das ist noch nicht alles:
Bei MAÎTRE LEBLOIS . Le Matin berichtet: Nach unserem Interview mit Major Esterházy fahren wir um Mitternacht in die Rue de l’Uni versité zur Wohnung von Maître Leblois, Anwalt am Be rufungsgericht. Niemand öffnet. Wir klingeln noch einmal. Die Tür bleibt geschlossen. Von innen fragt jemand: »Wer ist da? Was wollen Sie?« Wir nennen den Grund für unseren Besuch: Major Esterházy habe ihn, Maître Leblois, namentlich beschuldigt, Auguste Scheurer-Kestner die aus Schriftstücken von Oberstleutnant Picquart bestehende Akte übergeben zu haben. Leblois’ Stimme wird schärfer: »Was soll ich Ihnen sagen? Ich bin an die Schweigepflicht gebunden. Ich habe nichts zu sagen, absolut nichts. Aber ich empfehle Ihnen, den Namen Picquart nicht zu erwähnen. Gute Nacht, und kommen Sie nicht wieder!«
Als ich fertig gelesen habe und mich umschaue, ist der Raum leer.
Am Abend erhalte ich ein weiteres Telegramm. Es wird mir unter der Tür durchgeschoben. Diesmal ist die Nachricht ziemlich eindeutig: Räumen Sie umgehend Ihr Quartier in Sousse. Gehen Sie nicht davon aus, wieder zurückzukehren. Melden Sie sich bei mir im Hauptquartier. Gez. Leclerc.
•
In Tunis wird mir ein kleiner Raum im zweiten Stock der Hauptkaserne zugewiesen. Ich liege auf dem Bett und lausche der Sinfonie männlichen Anstaltslebens – dem Brüllen, den plötzlichen Pfiffen, den knallenden Türen und stampfenden Stiefeln. Ich denke an Pauline. Sie hat in den letzten Wochen kaum noch von sich hören lassen. Ich frage mich, was sie von den Zeitungsgeschichten über mich hält – dass ich von den Juden bezahlt werde, dass ich in Schimpf und Schande nach Tunesien abgeschoben wurde. Ich schreibe ihr einen Brief.
T UNIS
2 0. N OVEMBER 1 89 7
Chérie,
bei dem ständigen Hin und Her zwischen Sousse und Tunis erreicht mich Post nur sehr unregelmäßig. Aber vielleicht gibt es dafür auch andere Gründe. Wie auch immer, ohne Briefe von Dir ist es eintönig und traurig. Hab keine Angst, mir zu schreiben, und wenn es nur zwei Worte sind. Mir geht es gut, aber ich muss wissen, dass Du nicht in Gefahr schwebst. Armes kleines Mädchen – zum ersten Mal wird mein Leben in den Zeitungen ausgebreitet! Ich bin im Nachteil, weil ich weder die Möglichkeit noch die Absicht habe, mich auf gleichem Wege gegen diese Angriffe zu wehren. Aber irgendwann wird das alles ein Ende haben. Ich werde Dir von nun an nicht mehr schreiben, aber ich bewahre Dich mit all meiner Liebe in meinem Herzen.
Ich lege den Stift zur Seite und lese den Brief durch. Er kommt mir sehr gestelzt vor. Andererseits: Wenn man weiß, dass der eigene Liebesbrief über Wasserdampf geöffnet und von irgendwelchen Büromenschen gelesen, kopiert und abgeheftet wird, dann kann man nicht unbefangen schreiben.
PS: Ich bin sehr ruhig und lasse mich nicht demütigen. Du siehst, auch ernste Zeitläufte können mir keine Angst einjagen. Was
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