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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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bist.
    Ich halte den Zettel über die Flammen im Kamin, er fängt Feuer, dann lasse ich ihn fallen. Zur Sicherheit zerstoße ich mit dem Schürhaken auch die Reste der Scheite zu Pulver. Wenn mein Dienstmädchen ein Spitzel ist, wovon ich ausgehe, dann wäre es wirklich ein köstlicher Witz, wenn sie die Fetzen in der Statistik-Abteilung abliefern würde, damit sie sie dort wieder zusammensetzen. Ich versuche ständig, Louis davon zu überzeugen, dass solche Vorsichtsmaßnahmen nötig sind. Ich bitte ihn, wann immer möglich Mittelsmänner zu benutzen. Ich rate ihm, einem Fremden Geld zu geben, damit der seine Botschaften überbringt. Ich wiederhole immer wieder: Vertraue nichts der Post an. Vermeide regelmäßige Verhaltensmuster. Wenn möglich, leg falsche Fähr ten – triff dich mit Leuten, deren Ansichten als verdächtig eingestuft werden könnten allein aus dem Grund, deine Beschatter zu verwirren. Mach Umwege. Wechsle die Droschken. Denk immer daran, dass ihre Mittel zwar beträchtlich sein mögen, aber nicht unerschöpflich sind. Wir können sie ganz schön fertigmachen, wenn wir uns nur bemühen …
    Wenn ich schlafen gehe, liegt mein Revolver immer in Reichweite.
    Morgens bringt mir die Concierge die Zeitungen. Sie legt sie vor die Tür. Ich warte, bis sie wieder gegangen ist, dann hole ich sie herein. Ich gehe wieder zurück ins Schlafzimmer, lege mich im Morgenmantel aufs Bett und lese sie. Ich habe sonst nichts zu tun. Die Dreyfus-Affäre ist das alles beherrschende Thema. Sie entwickelt sich wie ein Fortsetzungsroman und ist von einer exotischen Schar an Figuren bevölkert, die ich kaum wiedererkenne, was auch für mich selbst gilt (»der dreiundvierzigjährige erfolgreiche Junggeselle und Meisterspion, der seine früheren Vorgesetzten verraten hat«). Zu den neuesten Wendungen in der Handlung gehören dreizehn Jahre alte Briefe von Esterházy an seine damalige Geliebte Madame de Boulancy, die schließlich im Figaro gelandet sind. (»Wenn man mir heute Abend erzählen würde, dass ich morgen sterben würde, während ich wie ein Ulanenhauptmann meinen Säbel in einen Franzosen ramme, dann wäre ich der glücklichste Mensch. Ich würde keinem Hund etwas zuleide tun, aber mit Freuden würde ich hunderttausend Franzosen töten.«) Esterházy hat die Briefe als von Juden veranlasste Fälschungen denunziert und durch seinen Anwalt ein Verfahren vor dem Kriegsgericht gefordert, das seinen Namen reinwaschen soll – ein Wunsch, dem die Armee entsprochen hat. Émile Zola hat eine weitere seiner leidenschaftlich beschwörenden Schilderungen von Dreyfus’ Notlage verfasst: »… ein von allen anderen Menschen abgeschnittenes Wesen, isoliert nicht nur durch den Ozean, sondern auch durch elf Wachen, die ihn Tag und Nacht wie eine lebende Mauer umringen …« Inzwischen hat in der Abgeordnetenkammer eine umfassende Debatte über die Affäre begonnen. Sie wurde vom Premierminister eröffnet, der sich hinter dem Bollwerk der Res iudicata verschanzte. »Lassen Sie mich eines von vornherein klarstellen. Es gibt keinen Fall Dreyfus! [Applaus] Es gibt keinen Fall Dreyfus und kann keinen geben! [Anhaltender Applaus]« Und um diesbezüglich jeden Zweifel auszuräumen, schickte das Kriegsministerium General Billot ans Rednerpult, der die Position der Regierung sogar mit noch stärkeren Worten bekräftigte. »Über Dreyfus wurde nach dem Gesetz gerichtet, und er wurde einstimmig verurteilt. Bei meiner Seele und meinem Gewissen als Soldat und Oberbefehlshaber der Armee halte ich diesen Richterspruch für rechtens und Dreyfus für schuldig.«
    Ich lege die Zeitungen zur Seite. Das geht wahrlich über jede Heuchelei hinaus, ja sogar über jede Lüge: Es ist zur Psychose geworden.
    Meine Uniform hängt im Schrank wie die abgeworfene Haut aus einem früheren Leben. Ich bin offiziell nicht aus der Armee entlassen worden. Genau genommen bin ich nur unbefristet beurlaubt worden und warte auf das Urteil der Pellieux-Untersuchung und die Antwort des Ministers. Aber um keine Aufmerksamkeit zu erregen, trage ich lieber Zivil. Kurz vor Mittag ziehe ich einen dicken Mantel an, setze die Melone auf, nehme meinen Schirm aus dem Ständer und gehe hinaus in den Tag.
    Nach außen hin hoffe ich, dass die Maske, die ich zur Schau trage, meine gewohnt abgeklärte, ja ironische ist, denn ich habe mich noch nie in einer Lage befunden, die so übel war, auch nicht die momentane, dass sie nicht zumindest irgendein Element der menschlichen Komödie

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