Intrige (German Edition)
enthalten hätte. Aber dann denke ich an Pauline und daran, wie sie auf meinem Bett lag und ständig die gleichen Worte wiederholte: Ich darf die Mädchen nicht mehr sehen … Sie hat vor Pellieux eine eidesstattliche Aussage gemacht und ist dann vor der Presse in die Nähe von Toulon geflüchtet, zu ihrem Bruder, der dort in der Marine dient, und ihrer Schwägerin. Louis kümmert sich um ihre juristischen Angelegenheiten. Er hat uns geraten, jeden Kontakt zu vermeiden, bis die Scheidung rechtskräftig sei. In stürmischem Regen haben wir uns unter den Augen eines Agenten von der Sûreté im Bois de Boulogne voneinander verabschiedet. Was man ihr angetan hat, kann ich dem Generalstab sogar noch weniger verzeihen, als was man Dreyfus angetan hat. Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich Hass mit mir herum. Er quält mich fast physisch, als trüge ich ein verborgenes Messer in meinem Ärmel. Manchmal, wenn ich allein bin, möchte ich es herausziehen und mit dem Daumen über die kalte, scharfe Klinge fahren.
Wie üblich wartet auf der gegenüberliegenden Straßenseite mein Beschatter. Er lehnt an dem Holzzaun, der die Baustelle umgibt, und raucht eine Zigarette. Zweifellos gibt es irgendwo in der Nähe noch einen zweiten Mann. Der dürre Bursche mit dem roten Bart, der dicken, braunen Jacke und der Schiebermütze ist mir früher schon aufgefallen. Er tut schon gar nicht mehr so, als wäre er etwas anderes als ein Polizeiagent. Er schnippt seine Zigarette auf den Boden, steckt die Hände in die Taschen und schlendert mit etwa zwanzig Schritten Abstand hinter mir her. Wie ein schlecht gelaunter Kompaniechef beschließe ich, dem Faulpelz ein bisschen scharfen Sonderdrill zu verpassen, und beschleunige meine Gangart, bis ich fast renne – über die Avenue Montaigne bis zur Place de la Concorde und dann auf die andere Seite des Flusses zum Boulevard Saint-Germain. Ich drehe mich um. Trotz der Dezemberkälte schwitze ich. Nach seinem Aussehen zu urteilen, leide ich allerdings nicht halb so sehr wie mein Verfolger, dessen Gesicht inzwischen so rot wie sein Haar ist.
Was ich jetzt brauche, ist ein Hüter des Gesetzes, und ich weiß genau, wo ich einen finden kann, nämlich in der Nähe des Polizeireviers Saint-Thomas-d’Aquin, wo an der Kreuzung mit dem Boulevard Raspail einer Streife geht. »Monsieur!«, rufe ich und gehe schnell auf den Polizisten zu. »Ich bin Oberst leutnant der französischen Armee, dieser Mann hier verfolgt mich! Ich verlange, dass Sie ihn verhaften und uns beide zu Ihrem Vorgesetzten bringen, damit ich offiziell Anzeige erstatten kann.«
Er schreitet mit erfreulichem Eifer zur Tat. »Sie meinen diesen Herrn da, Herr Oberstleutnant?«, sagt er und ergreift den Arm des atemlosen Agenten.
»He, lassen Sie … mich los, Sie … Idiot!«, sagt der rotbärtige Mann schnaufend.
Der zweite Agent der Sûreté, der mit einer Aktenmappe aus Pappe einen Handelsreisenden mimt, lässt seine Tarnung auffliegen und überquert die Straße, um seinem Partner beizustehen. Auch er schwitzt und ist sauer. Er lässt sich zu einer beleidigenden Bemerkung über die Intelligenz von Streifenpolizisten im Allgemeinen hinreißen, worauf dem Hüter des Gesetzes der Geduldsfaden reißt und er die beiden kurzerhand verhaftet.
Zehn Minuten später habe ich die Gelegenheit, dem diensthabenden Beamten auf dem Revier meinen Namen und meine Adresse zu hinterlassen, und kann mich dann wieder allein aus dem Staub machen.
Die Rue de Grenelle befindet sich gleich um die Ecke. Nummer elf ist ein imposantes altes Gebäude. Ich schaue mich nach allen Seiten um, ob ich beobachtet werde, dann drücke ich auf die Klingel. Fast sofort macht mir ein Dienstmädchen auf. Hinter ihr im Flur steht Louis. Nervös guckt er an mir vorbei auf die Straße. »Und du wirst auch nicht beschattet?«
»Jetzt nicht mehr.« Ich gebe dem Mädchen meinen Schirm und Hut. Hinter einer geschlossenen Tür sind männliche Stimmen zu hören.
Louis hilft mir aus dem Mantel. »Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?«
»Wo sind sie? Da drin?«
Ich gehe zu der Tür und öffne sie selbst. Die sechs Männer mittleren Alters, die im Frack vor dem prasselnden Kaminfeuer stehen, verstummen und drehen sich zu mir um. Der Anblick erinnert mich an ein Gruppenporträt von Fantin-Latour – Hommage à Delacroix. »Darf ich vorstellen, meine Herren, Oberstleutnant Picquart«, sagt Louis.
Kurz herrscht Schweigen, dann fängt einer der Männer zu klatschen an – ein
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