Intrige (German Edition)
meine Abschiedsworte mitteilen. »Sie sehen ja, was man mit mir macht. Aber ich bin ziemlich ruhig. Sie haben sicherlich in der Zeitung gelesen, was so über mich erzählt wird. Halten Sie mich bitte auch weiter für einen ehrenhaften Menschen.«
Auf der Straße wartet eine große Militärkutsche mit zwei weißen Pferden. Es ist noch dunkel, über Nacht hat es gefroren. Das Licht einer roten Laterne auf der Baustelle gegenüber spiegelt sich matt in den gefrorenen Pfützen. Der Ge freite nimmt mir den Koffer ab und steigt neben dem Kutscher auf den Bock, während der Oberst höflich den Schlag öffnet und mir den Vortritt lässt. Die Straße ist menschenleer, außer Reigneau wird niemand Zeuge meiner Schmach. Wir biegen rechts in die Rue Copernic ein und fahren in Richtung Place Victor-Hugo. An der Ecke zum Kreisverkehr stehen einige Frühaufsteher für die Morgenzeitung an, eine noch längere Schlange hat sich am Zeitungsstand an der Place de l’Étoile gebildet. Im Vorbeifahren kann ich die riesige Balkenüberschrift lesen: »J’Accuse …!« Ich wende mich an den Oberst. »Würden Sie einem verurteilten Mann einen letzten Wunsch erfüllen? Könnten wir wohl kurz halten, damit ich mir eine Zeitung kaufen kann?«
»Eine Zeitung? « Der Oberst schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Warum nicht, wenn Sie unbedingt wollen …«
Er sagt dem Kutscher, er solle halten. Ich steige aus und gehe zurück zum Zeitungsstand. Der Gefreite folgt mir in diskretem Abstand. Geradeaus über der Avenue du Bois de Boulogne hellt sich gerade der Himmel auf und lässt die Umrisse der kahlen Baumwipfel erkennen. Die Zeitung, für die alle anstehen, ist Clemenceaus L’Aurore, und die Überschrift, die quer über alle sechs Spalten verläuft, lautet:
J’Accuse …!
BRIEF AN DEN PRÄSIDENTEN DER REPUBLIK
von Émile Zola
Ich stelle mich an, kaufe ein Exemplar und gehe dann langsam zur Kutsche zurück. Das Licht der Straßenlaternen reicht gerade aus, die Buchstaben zu erkennen. Der Text nimmt die gesamte Titelseite ein, Tausende Worte einer Streit schrift in der Form eines Briefs an Präsident Fauré. (»Ich weiß um Ihre Rechtschaffenheit, und deshalb bin ich davon überzeugt, dass Sie die Wahrheit nicht kennen …«) Ich überfliege die Spalten mit wachsender Verwunderung.
Man stelle sich vor: General Billot und die Generäle Gonse und Boisdeffre wissen seit einem Jahr, dass Dreyfus unschuldig ist, und sie behalten dieses schreckliche Wissen für sich? Und diese Menschen schlafen des Nachts, sie haben Frauen und Kinder, die sie lieben!
Oberstleutnant Picquart erfüllte seine Pflichten wie ein ehrenhafter Mann. Im Namen der Gerechtigkeit setzte er seinen Vorgesetzten hartnäckig zu. Er beschwor sie, er sagte ihnen, wie undiplomatisch ihre Verzögerungstaktik sei im Angesicht eines heraufziehenden fürchterlichen Sturms, der losbrechen würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Aber nein! Das Verbrechen war begangen, und der Generalstab konnte es nicht mehr eingestehen. Und so wurde Oberstleutnant Picquart auf Dienstreise geschickt. Immer weiter schickten sie ihn fort, bis nach Tunesien, wo sie seinen Mut schließlich mit einem Einsatz zu vergelten suchten, bei dem er mit Sicherheit niedergemetzelt worden wäre.
Mitten auf dem Trottoir bleibe ich stehen.
Die erstaunliche Folge dieser himmelschreienden Umstände war, dass Oberstleutnant Picquart, der einzige anständige Mann, der darin verwickelt war, der als Einziger seine Pflicht getan hatte, zum verhöhnten und bestraften Opfer wurde. O Gerechtigkeit, welch grässliche Verzweiflung ergreift unser Herz? Man hat sogar behauptet, er selbst sei der Fälscher gewesen, der das Brieftelegramm fabrizierte, um Esterházy zu ruinieren. Ja! Wir werden Zeuge eines schändlichen Spektakels, in dem tief in Schuld und Verbrechen verstrickte Männer als unschuldig gerühmt werden, während die Ehre eines Mannes, dessen Leben ohne Makel ist, niederträchtig angegriffen wird. Eine auf dieses Niveau herabgesunkene Gesellschaft ist im Untergang begriffen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Oberstleutnant, wir sollten jetzt wirklich weiterfahren«, sagt der Soldat hinter mir.
»Ja, natürlich. Lassen Sie mich das nur eben fertig lesen.«
Ich überfliege die Spalten und komme zum Schluss.
Ich klage Oberst du Paty de Clam an, der teuflische Schöpfer dieses Justizirrtums zu sein …
Ich klage General Mercier, zumindest aus geistiger Trägheit, der Mittäterschaft an bei
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