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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Esterházy-Prozess.«
    »Dann verlieren wir also wieder?«
    »Wenn man gekämpft hat, kann eine Niederlage manchmal auch ein Sieg sein.«
    Im Kriegsministerium ist man zweifellos nervös wegen meiner Aussage. Ein paar Tage vor dem Prozess besucht mich ein alter Kamerad in der Festung Mont-Valérien, Oberst Bailloud, um mich zur Vernunft zu bringen. Er wartet, bis wir unten im Hof sind, wo ich mir jeden Tag zwei Stunden die Beine vertreten darf, bevor er mit der Botschaft herausrückt.
    »Ich bin von höchster Stelle befugt, dir etwas mitzuteilen«, sagt er pompös. »Wenn du ein wenig Zurückhaltung übst, wird deine Karriere keinen Schaden nehmen.«
    »Das heißt, ich soll den Mund halten.«
    »Sie haben das Wort Zurückhaltung benutzt.«
    Ich kann mir nicht helfen, aber ich muss lachen. »Da steckt Gonse dahinter, stimmt’s?«
    »Das behalte ich lieber für mich.«
    »Tja, du kannst ihm von mir ausrichten, dass ich immer noch weiß, was es heißt, Soldat zu sein, und dass ich mein Bestes tun werde, um meine Verschwiegenheitspflicht mit meinen Verpflichtungen als Zeuge unter einen Hut zu bringen. Reicht das? Und jetzt verschwinde wieder nach Paris, alter Junge, und lass mich in Ruhe meine Runden drehen.«
    Am Tag meiner Aussage werde ich mit einer Militärkut sche zum Justizpalast auf die Île de la Cité gebracht. Ich trage die Uniform des 4 . Tunesischen Schützenregiments. Ich habe mein Wort gegeben, keinen Fluchtversuch zu unternehmen und nach Ende der Verhandlung mit meinen Gefängniswär tern zur Festung Mont-Valérien zurückzukehren. Als Gegenleistung wird mir gestattet, das Gebäude wie ein freier Mann zu betreten, ohne Eskorte. Auf dem Boulevard du Palais findet eine antisemitische Demonstration statt. »Tod den Juden!«, skandieren die Demonstranten. »Tod den Ver rätern! Ins Wasser mit euch, Judenpack!« Man erkennt mein Gesicht, vielleicht von den widerwärtigen Karikaturen aus La Libre Parole und ähnlichen Schmutzblättern. Ein paar Schlägertypen lösen sich aus der Menge und versuchen mir in den Hof und die Stufen des Justizpalastes hinauf zu folgen, aber die Gendarmen stellen sich ihnen in den Weg. Ich verstehe jetzt, warum Mathieu Dreyfus erklärt hat, er würde der Verhandlung fernbleiben.
    In der hohen, an diesem trüben Februartag von elektrischen Lampen hell erleuchteten Kuppelhalle des Justizpalastes herrscht ein Lärm wie in einer extravaganten Bahnhofshalle. Es wimmelt von Menschen, von Schreibern und Gerichtsboten, die mit juristischen Schriftstücken unter dem Arm herumwuseln, von Anwälten in schwarzen Roben, die tratschen oder sich mit ihren Mandanten beraten, von be sorgten Klägern und Angeklagten, von Zeugen, Gendarmen, Reportern, Armeeoffizieren und armen Leuten, die Schutz vor der winterlichen Kälte suchen, von höchst modisch gekleideten Damen und Herren, die eine Eintrittskarte für den sensationellen Zola-Prozess ergattert haben – Menschen aus allen Schichten drängen sich in der Salle des Pas-Perdus und in der endlosen Galerie des Prisonniers. Glocken werden geläutet. Rufe und Schritte hallen vom Marmor wider. Abge sehen von einigen Remplern und neugierigen Blicken bewege ich mich mehr oder weniger unbemerkt durch die Menge. Als ich den Zeugenraum gefunden habe, nenne ich dem Amtsdiener meinen Namen, und eine halbe Stunde später werde ich aufgerufen.
    Erste Eindrücke vom Schwurgericht: majestätische Ausmaße, schwere Holzpaneele und glänzende Messingappli kationen, dicht nebeneinandersitzende Menschen, das Summen ihrer Stimmen. Schlagartig herrscht Stille, als ich mit klackenden Stiefeln über den Parkettboden des Mittelgangs gehe, das kleine Holztürchen in der Barriere öffne, die den Richter und die Geschworenen von den Zuschauern trennt, und dann den halbkreisförmigen Zeugenstand vor der Richterbank betrete.
    »Nennen Sie Ihren Namen, Herr Zeuge.«
    »Marie-Georges Picquart.«
    »Wohnort?«
    »Mont-Valérien.«
    Das Gelächter verschafft mir die Gelegenheit, mich auf die Schnelle zu orientieren: an einer Seite von mir die Bänke mit den zwölf Geschworenen, allesamt normale Geschäftsleute; vor mir, auf einem erhöhten Podest, der große, rund gesichtige Richter Delegorgue in seiner scharlachroten Robe; hinter ihm der Avocat général Van Cassel als Vertreter der Regierung mit einem Dutzend weiterer Anwälte, die in ihren schwarzen Talaren wie Priester aussehen; an einem Tisch Zola und der Mitangeklagte Perrenx, Geschäftsführer von L’Aurore; daneben deren

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