Intrige (German Edition)
erfahre, sowie Zeitschriften und Zeitungen, die mit Dreyfus sympathisieren. Der Anblick der Gestalten, die in der Dunkelheit um die Flammen herum tanzen, hat etwas Heidnisches an sich. Die Gendarmen müssen unserer Kutsche gewaltsam den Weg bahnen. Der Kutscher hat alle Hände voll zu tun, die scheuenden Pferde im Zaum zu halten. Wir überqueren den Fluss und haben kaum hundert Meter auf dem Boulevard de Sébastopol zurückgelegt, als wir das Splittern von Fensterscheiben hören und der Mob in der Mitte der Straße an uns vorüberläuft. Ein Mann schreit: »Nieder mit den Juden!« Sekunden später fahren wir an einem Geschäft mit eingeschlagenen Scheiben vorbei. Das Ladenschild mit dem Namen Levy & Dreyfus ist mit Farbe beschmiert.
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Am nächsten Tag werde ich nicht ins Schwurgericht gebracht, sondern in einen anderen Teil des Justizpalastes. Dort befragt mich ein Richter namens Paul Bertulus zu den gefälschten Botschaften, die ich in Tunesien erhalten habe. Er wurde von General Billot mit dieser Aufgabe betraut und ist etwa Mitte vierzig, groß, gut aussehend, charmant. Die Enden seines Schnauzbarts sind nach oben gezwirbelt, er trägt eine rote Nelke im Knopfloch und sieht aus, als fühlte er sich auf der Rennbahn Longchamp wohler als hier. Vom Hörensagen weiß ich, dass er konservativ, Royalist und ein Freund von Henry ist, was vermutlich der Grund ist, warum man ihn ausgewählt hat. Deshalb habe ich auch nur die geringsten Erwartungen, was seine Gewissenhaftigkeit als Ermittler angeht. Stattdessen wird er zu meiner Überraschung immer verstörter, je länger ich beschreibe, was mir in Nordafrika widerfahren sei.
»Lassen Sie mich das noch einmal klarstellen, Herr Oberstleutnant. Sie sind sich ganz sicher, dass es nicht Mademoiselle Blanche de Comminges war, die Ihnen diese Telegramme geschickt hat?«
»Ja, sie ist ohne jeden Zweifel von Oberst du Paty in die Affäre hineingezogen worden.«
»Und warum sollte er das tun?«
Ich schaue zu dem Stenografen, der meine Aussage mitschreibt. »Ich wäre bereit, Ihnen das zu erklären, Monsieur Bertulus, aber nur unter vier Augen.«
»Das ist nicht die übliche Vorgehensweise, Herr Oberstleutnant.«
»Das ist auch keine übliche Angelegenheit.«
Der Richter überlegt. »Also gut,« sagt er schließlich. »Allerdings müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass ich entsprechend Ihrer Aussage handeln muss, ob Sie das wollen oder nicht.«
Ich bin einverstanden, da ich den Eindruck habe, dass ich ihm trauen kann. Nachdem der Stenograf das Zimmer verlassen hat, erzähle ich ihm die Geschichte von du Patys Liaison mit Blanche, wobei ich besonders das Detail des gestohle nen, angeblich von einer verschleierten Frau zurückgegebenen Briefs hervorhebe. »Deshalb glaube ich, dass du Paty da irgendwie seine Finger im Spiel hat. Seine Fantasie ist sensationslüstern, aber beschränkt. Ich bin mir sicher, dass Esterházy diese romanhafte Arabeske von der verschleierten Dame, die ich angeblich kenne, von du Paty hat.«
»Das klingt nicht sehr glaubhaft.«
»Ich weiß, aber jetzt können Sie verstehen, wie verheerend es für Mademoiselle de Comminges’ gesellschaftliche Stellung wäre, wenn diese Details bekannt würden.«
»Sie wollen also andeuten, dass Oberst du Paty mittels gefälschter Botschaften das direkte Verbindungsglied zwischen Major Esterházys Anschuldigungen und einer Verschwörung gegen Sie darstellt, die von offizieller Seite gebilligt wird?«
»Ja.«
»Gehört Fälschung zu den allgemein gebräuchlichen Arbeitsmethoden im Geheimdienst?«
Ich muss mich zusammenreißen, um angesichts solcher Naivität nicht zu lächeln. »Über einen Polizisten von der Sûreté, Jean-Alfred Desvernine, habe ich einmal einen Fälscher mit dem Pseudonym Lemercier-Picard kennengelernt. Ich schlage vor, Sie unterhalten sich mit ihm darüber. Er könnte Ihnen weiterhelfen.«
Bertulus notiert sich den Namen und ruft dann den Steno grafen wieder herein.
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Am Nachmittag, ich sage immer noch unter Eid aus, klopft es an der Tür, und fast im gleichen Augenblick steckt Louis den Kopf herein. Er schwitzt und ist außer Atem. »Verzeihen Sie die Störung, aber Oberstleutnant Picquart wird dringend im Gericht gebraucht.«
»Tut mir leid, wir befinden uns mitten in der Vernehmung«, sagt Bertulus.
»Das ist mir klar, und Maître Labori bittet auch vielmals um Entschuldigung, aber er muss den Herrn Oberstleutnant unbedingt als Gegenzeugen aufrufen.«
»Nun ja, wenn es denn
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