Intrige (German Edition)
Bedeckungstruppen, über Veränderungen der Artillerieformationen und über die Invasion von Madagaskar. »Warum nur Mitteilungen? Wer etwas von Bedeutung anzubieten gehabt hätte und nicht nur, was er bei Gesprächen aufgeschnappt oder im Vorbeigehen gesehen hat, hätte sicherlich geschrieben: Ich schicke Ihnen eine Kopie von dem und dem Dokument. Eine Kopie wurde tatsächlich übergeben, das fünfte Dokument, die Schießvorschrift, und es ist bestimmt kein Zufall, dass Major Esterházy Zugang dazu hatte und tatsächlich eine Abschrift davon hat anfertigen lassen. Aber auch hier spricht der Verfasser davon, dass er nur für eine begrenzte Zeit darüber verfügen könne, wohingegen ein Offizier des Generalstabs – wie Dreyfus – unbegrenzten Zugriff gehabt hätte.«
Rechts von mir hängt eine große verzierte Uhr an der Wand. Alle im Gerichtssaal hören mir so konzentriert zu, dass ich bei jeder Pause zwischen den einzelnen Punkten in der Stille das Ticken höre. Von Zeit zu Zeit kann ich aus den Augenwinkeln sehen, dass sich in den Gesichtern nicht nur der Geschworenen, sondern auch in denen von einigen Offizieren des Generalsstabs Zweifel regen. Der inzwischen nicht mehr so selbstsichere Pellieux steht ein ums andere Mal auf, um mich zu unterbrechen, und wagt sich dabei auf immer dünneres Eis, bis er schließlich einen entscheidenden Fehler macht. Ich führe gerade aus, dass der Schlusssatz des Bor dereaus – Ich bin ab sofort im Manöver – ebenfalls darauf verweist, dass der Verfasser nicht im Kriegsministerium gearbeitet habe, weil die Manöver des Generalstabs im Herbst stattfänden und das Bordereau angeblich im April geschrieben worden sei, als Pellieux sich wieder zu Wort meldet.
»Aber der Bordereau wurde nicht im April geschrieben.«
Noch bevor ich antworten kann, fällt Labori blitzschnell über ihn her. »O doch – zumindest hat das Ministerium das immer behauptet.«
»Ganz und gar nicht«, behauptet Pellieux hartnäckig, obwohl seine Stimme schon unsicher zittert. »General Gonse, dürfte ich Sie bitten.«
Gonse kommt nach vorn. »General Pellieux hat recht: Der Bordereau muss um den August herum geschrieben worden sein, da er eine Mitteilung enthält, in der auf die Invasion Madagaskars Bezug genommen wird.«
Jetzt stürzt sich Labori auf Gonse. »Wann genau hat der Generalstab die Mitteilung zu Madagaskar aufgesetzt?«
»Im August.«
»Moment.« Labori durchsucht seine Unterlagen und zieht ein Blatt Papier heraus. »Aber in der ursprünglichen Anklageschrift gegen Hauptmann Dreyfus, die bei seinem Prozess verlesen wurde, wird behauptet, dass er die Madagaskar-Mitteilung im Februar kopiert habe, als er der entsprechenden Abteilung zugeteilt gewesen sei. Ich zitiere: ›Hauptmann Dreyfus hätte sie sich damals leicht beschaffen können.‹ Wie bringen Sie diese beiden Daten in Einklang?«
Gonse gafft ihn mit offenem Mund an. Dann sieht er zu Pellieux hinüber. »Die Mitteilung wurde im August ge schrieben. Ob im Februar auch eine verfasst wurde, weiß ich nicht …«
»Nun, meine Herren!«, sagt Labori höhnisch. »Da sieht man mal wieder, wie wichtig Präzision ist.«
Ein trivialer Widerspruch, und dennoch ist der Stim mungswandel im Gerichtssaal wie fallender Luftdruck sofort spürbar. Einige lachen, worauf Pellieux’ Gesicht erstarrt und vor Zorn rot anläuft. Er ist ein eitler, ein stolzer Mann, und jetzt steht er da wie ein Idiot. Schlimmer, der ganze Fall der Regierung erscheint plötzlich fadenscheinig. Bislang hat ihn kein Anwalt von Laboris Qualität ernsthaft unter die Lupe genommen. Unter Druck wirkt er so instabil wie ein Kartenhaus.
Pellieux beantragt eine kurze Unterbrechung. Er stolziert zu seinem Platz zurück. Sofort wird er von Henry, Gonse und den anderen Offizieren des Generalstabs umringt. Ich sehe, wie Pellieux mit dem Finger in der Luft herumfuchtelt. Auch Labori sieht es. Er schaut mich mit gerunzelter Stirn an, breitet die Arme aus und formt stumm die Worte: Was reden die da? Aber ich kann nur mit den Achseln zucken. Ich habe keine Ahnung, worüber sie sprechen.
Fünf Minuten später kommt Pellieux wieder nach vorn. Offensichtlich will er etwas sagen.
»Meine Herren Geschworenen, ich habe eine Erklärung zu dem gerade Gesagten abzugeben. Bis jetzt hat sich unsere Seite strikt innerhalb der rechtlichen Grenzen bewegt. Wir haben uns nicht über den Fall Dreyfus geäußert, und das möchte ich auch jetzt nicht tun. Aber die Verteidigung hat gerade eine Passage
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