Intrige (German Edition)
Sie auf der anderen Seite des Schreibtischs gestanden haben – also mir gegenüber, ich saß hinter dem Schreibtisch. Wie konnten Sie da das Schriftstück erkennen?«
»Ich habe es ganz sicher erkannt.«
»Auch wenn das Schriftstück unmittelbar vor Ihren Augen gelegen hätte, das Schriftbild ist viel zu schwach, als dass man etwas hätte erkennen können. Wie wollen Sie es dann aus größerer Entfernung erkannt haben?«
»Hören Sie, Herr Oberstleutnant«, erwidert er und versucht sich mit Großmäuligkeit aus der Zwangslage zu be freien. »Ich kenne dieses Schriftstück besser als jeder andere, und ich würde es auch noch aus zehn Metern Entfernung erkennen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Also, zum allerletzten Mal jetzt: Sie wollen wissen, was gespielt wird? Können Sie haben!« Er zeigt auf mich und wendet sich dann an die Geschworenen. »Oberstleutnant Picquart lügt!«
Er spricht die Worte in genau dem gleichen theatralischen Ton aus und vollführt die gleiche anklagende Handbewegung wie schon im Prozess gegen Dreyfus. Der Verräter ist dieser Mann! Der Gerichtssaal stöhnt auf, und in diesem Augenblick vergesse ich meinen Schwur, Ruhe zu bewahren. Er hat mich gerade einen Lügner genannt. Ich drehe mich wieder zu Henry um und hebe die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Sie haben nicht das Recht, so etwas zu behaupten! Ich fordere Satisfaktion für diese Bemerkung!«
Als die Zuschauer begreifen, dass ich Henry gerade zum Duell gefordert habe, bricht ein Tumult aus. Manche applaudieren, manche johlen höhnisch. Henry schaut mich überrascht an. Ich nehme kaum wahr, dass der Richter mit dem Hammer auf den Tisch schlägt, um die Ruhe wiederherzustellen. Ich kann mich nicht mehr beherrschen. Die Enttäuschungen der letzten eineinhalb Jahre brechen aus mir hervor. »Meine Herren Geschworenen, Sie haben heute erlebt, dass Männer wie Oberstleutnant Henry, Major Lauth und der Leiter des Archivs, Gribelin, die abscheulichsten Anschuldigungen gegen mich erhoben haben. Sie haben gerade gehört, dass Oberstleutnant Henry mich einen Lügner schimpft. Sie haben Major Lauth gehört, der mich ohne den Hauch eines Beweises der Fälschung des Petit Bleu beschuldigt. Nun, meine Herren, wissen Sie, warum all das geschieht? Die Architekten der Affäre Dreyfus sind …«
»Herr Oberstleutnant …«, sagt der Richter mit warnender Stimme.
»… sind Oberstleutnant Henry und Monsieur Gribelin, die, unterstützt von Oberst du Paty de Clam und angeleitet von General Gonse, die Fehler unter den Teppich kehren, die unter der Ägide meines Vorgängers Oberst Sandherr gemacht worden sind. Sandherr war ein kranker Mann, der schon unter den Lähmungserscheinungen litt, an denen er später starb, und diese Männer haben ihn seitdem gedeckt – vielleicht aus missverstandener Loyalität, vielleicht um die Abteilung zu schützen. Ich weiß es nicht. Und soll ich Ihnen sagen, worin in ihren Augen mein Verbrechen bestand? Dass ich daran geglaubt habe, unsere Ehre könne besser verteidigt werden als mit blindem Gehorsam. Aus diesem Grund werde ich jetzt schon seit Monaten verleumdet, von Zei tungen, die für ihre üble Nachrede und ihre Lügen bezahlt werden.«
»Jawohl!«, schreit Zola, und der Richter schlägt wieder mit dem Hammer auf den Tisch, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich lasse nicht locker.
»Seit Monaten mache ich das Schrecklichste durch, was ein Offizier durchmachen kann. Meine Ehre wird verletzt, und ich habe keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Und morgen werde ich vielleicht aus meiner geliebten Armee entfernt, der ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens gewidmet habe. Nun, so soll es denn sein. Ich glaube immer noch, dass es meine Pflicht war, mich um Wahrheit und Gerechtigkeit zu bemühen. Ich glaube, besser kann kein Soldat seiner Armee dienen. Und außerdem glaube ich, dass es meine Pflicht als Ehrenmann war.« Ich wende mich wieder an den Richter und füge leise hinzu. »Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Hinter mir ist vereinzeltes Klatschen und jede Menge Gejohle zu hören. Eine einsame Stimme ruft: »Es lebe Picquart!«
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Um dem Mob aus dem Weg zu gehen, muss ich an jenem Abend durch einen Seitenausgang auf den Quai des Orfèvres geschleust werden. Am blutroten Himmel über dem Justizpalast treiben Funken vorüber, und als wir um die Ecke biegen, sehen wir auf der Promenade am anderen Seineufer mehrere Hundert Menschen, die Bücher verbrennen – Zolas Bücher, wie ich später
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