Intrige (German Edition)
würdevoll, der Gang steif, die schwarze, eng anliegende Uniform in scharfem Kontrast zum weißen Haar und Schnauzbart. Seit ich ihn vor fünfzehn Monaten zum letzten Mal gesehen habe, scheint er stark gealtert zu sein.
»Danke, dass Sie kommen konnten, Herr General«, sagt der Richter. »Es ist etwas Unvorgesehenes eingetreten. Lassen Sie mich Ihnen zunächst die protokollierte Aussage von General Pellieux vorlesen.«
Als er die Aussage gehört hat, nickt Boisdeffre ernst. »Ich mache es kurz. Ich bestätige General Pellieux’ eidesstattliche Aussage in allen Punkten als präzise und wahrhaftig. Es steht mir nicht zu, dem auch nur ein einziges Wort hinzuzufügen.« Er wendet sich an die Geschworenen. »Erlauben Sie, meine Herren, dass ich zum Abschluss noch ein Wort an Sie richte. Sie sind die Geschworenen, Sie sind die Nation. Wenn die Nation den Kommandanten ihrer Armee, den für die Verteidigung der Nation verantwortlichen Männern nicht mehr vertraut, dann werden sie diese schwere Aufgabe, ohne zu zögern, anderen überlassen. Es liegt an Ihnen, darüber zu entscheiden. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Herr Vorsitzender, ich bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«
»Sie dürfen sich zurückziehen, Herr General«, sagt der Richter. »Der nächste Zeuge.«
Boisdeffre dreht sich um und schreitet unter allgemeinem Beifall auf den Ausgang zu. Als er an mir vorbeigeht, streift sein Blick für einen Moment mein Gesicht, wobei fast unmerklich ein Muskel seiner Backe zuckt. »Verzeihen Sie, Herr General, ich habe noch ein paar Fragen an Sie«, ruft Labori ihm hinterher.
Der Richter greift ein. »Ich habe Ihnen nicht das Wort erteilt, Maître Labori. Der Sachverhalt ist abgeschlossen.«
Boisdeffre entfernt sich mit festen Schritten vom Zeugenstand. Seine Mission ist erfüllt. Mehrere der Offiziere aus dem Generalstab stehen auf und knüpfen ihre Umhänge zu.
Labori lässt nicht locker. »Verzeihung, General Boisdeffre …«
»Sie haben nicht das Wort.« Der Richter schlägt mit dem Hammer auf den Tisch. »Major Esterházy ist der nächste Zeuge.«
»Aber ich habe noch Fragen an diesen Zeugen …«
»Es handelte sich um einen Sachverhalt, der nicht Gegenstand der Verhandlung ist. Sie haben nicht das Wort.«
»Ich bitte nachdrücklich um das Wort …«
Es ist zu spät. Die Tür zum Gerichtssaal fällt ins Schloss – höflich, nicht knallend –, und Boisdeffres Intervention ist beendet.
•
Nach dem Drama der letzten Minuten ist der Auftritt von Esterházy eine Enttäuschung. Labori und die Brüder Clemenceau debattieren laut flüsternd darüber, ob sie die Ver handlung aus Protest gegen Boisdeffres ungewöhnliche Intervention verlassen sollen. Die Geschworenen – diese Ansammlung aus Textilhändlern, Kaufleuten und Gemüse anbauern – sind immer noch perplex über die vom General stabschef höchstpersönlich ausgesprochene Drohung, das gesamte Oberkommando werde es als Ausdruck des Misstrauens werten und zurücktreten, sollten sie gegen die Armee entscheiden. Was mich angeht, so rutsche ich auf meinem Sitzplatz herum, weil mich mein Gewissen beutelt und ich nicht weiß, was ich jetzt tun soll.
Der zitternde Esterházy, der mit seinen unnatürlich großen und vorstehenden Augen ständig nervös mal hierhin, mal dorthin schaut, richtet als Erstes einen Appell an die Geschworenen. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, in welch scheußliche Lage man mich gebracht hat. Der erbärm liche Monsieur Mathieu Dreyfus hat es gewagt, mich ohne den Hauch eines Beweises zu beschuldigen, das Verbrechen begangen zu haben, für das sein Bruder bestraft wurde. Unter Missachtung aller Rechte, aller Grundsätze der Justiz muss ich heute vor Ihnen nicht als Zeuge, sondern als Angeklagter erscheinen. Ich protestiere vehement gegen diese Behandlung …«
Ich kann es nicht ertragen, mir das anzuhören. Ich stehe demonstrativ auf und verlasse den Saal.
Esterházy ruft mir hinterher. »Während der letzten achtzehn Monate hat man das schauerlichste Komplott gegen mich geschmiedet, das jemals gegen einen Mann geschmiedet wurde. Während dieser Zeit habe ich mehr ertragen müssen, als jeder meiner Zeitgenossen in seinem ganzen Leben ertragen hat …«
Ich schließe die Tür und mache mich in den Gängen auf die Suche nach Louis. Ich finde ihn schließlich im Vestibül de Harlay, wo er auf einer Bank sitzt und auf den Boden starrt.
Er schaut mich grimmig an. »Dir ist klar, dass wir gerade Zeuge eines
Weitere Kostenlose Bücher