Intrige (German Edition)
könnten.«
Als ich am nächsten Tag ins Strafgericht des Département Seine gebracht werde, bitte ich den Richter, eine Erklärung abgeben zu dürfen. Der kleine Gerichtssaal ist voller Journalisten – und zwar nicht nur französischer, sondern auch ausländischer. Ich entdecke sogar den Glatzkopf und den ausladenden Backenbart des berühmtesten Auslandskorrespondenten der Welt, Monsieur de Blowitz von der Londoner Times . Ich richte meine Erklärung an die Journalisten.
»Es ist gut möglich, dass ich heute Abend ins Gefängnis Cherche-Midi gebracht werde. Vor Beginn der geheimen Ermittlungen habe ich wahrscheinlich jetzt zum letzten Mal die Gelegenheit, mich in der Öffentlichkeit zu äußern. Ich möchte Sie wissen lassen, sollten in meiner Zelle jemals Lemercier-Picards Schnürriemen oder Henrys Rasiermesser gefunden werden, dann handelt es sich um Mord, denn niemals würde ein Mensch wie ich, nicht einmal für eine Sekunde, Selbstmord in Erwägung ziehen. Ich werde mich dieser Anklage stellen, hocherhobenen Hauptes und mit der gleichen Gelassenheit, mit der ich meinen Anklägern immer gegenübergetreten bin.«
Zu meiner Überraschung bekomme ich lauten Applaus von den Reportern. Unter Rufen wie »Es lebe Picquart!«, »Es lebe die Wahrheit!«, »Es lebe die Gerechtigkeit!« werde ich aus dem Saal geführt.
Laboris Vorhersage stimmt. Die Armee erhält das Recht, ihre Anklage zuerst zu verhandeln. Am nächsten Tag werde ich ins Gefängnis Cherche-Midi überführt, wo man mich – wie man mir genüsslich mitteilt – in dieselbe Zelle sperrt, an deren Wänden sich vor genau vier Jahren der arme Dreyfus den Kopf blutig geschlagen hat.
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Ich sitze in Einzelhaft, darf kaum Besucher empfangen und habe nur einmal am Tag eine Stunde Hofgang – in einem winzigen Innenhof mit hohen Mauern, von denen ich eine mit sechs Schritten abgehen kann. Ich gehe diagonal von einer Ecke in die andere und trotte an den Wänden entlang wie eine gefangene Maus in einem Brunnenschacht.
Die Anklage lautet, dass ich den Namen des ursprünglichen Empfängers des Telegramms vom Papier gekratzt und durch Esterházys Namen ersetzt habe. Ein Verbrechen, das mit fünf Jahren Gefängnis bestraft wird. Die Befragung zieht sich über Wochen hin.
Erzählen Sie uns doch bitte noch einmal von den Um ständen, unter denen Sie in den Besitz des Petit Bleu gelangt sind …
Zum Glück habe ich nicht vergessen, dass ich Lauth, nach dem er das Petit Bleu zusammengesetzt hatte, gebeten habe, Fotos davon zu machen. Als diese schließlich herausgesucht und dem Gericht vorgelegt werden, zeigt sich eindeutig, dass die Adresse zu dieser Zeit noch nicht manipuliert war. Sie ist erst danach im Laufe der Verschwörung gegen mich geändert worden. Trotzdem bleibe ich weiter in Cherche-Midi. Pauline schreibt, dass sie mich besuchen will. Ich bin dagegen – die Zeitungen könnten Wind davon bekommen, und außerdem will ich nicht, dass sie mich in dieser Verfassung sieht. Mir fällt es leichter, allein durchzuhalten. Die gelegentlichen Ausflüge ins Gericht bringen etwas Abwechs lung in die Langeweile. Im November breite ich zum wiederholten Mal mein gesamtes Beweismaterial aus. Diesmal vor zwölf altgedienten Richtern der Strafkammer, womit der Zivilprozess beginnt, der feststellen soll, ob das Urteil gegen Dreyfus rechtssicher ist.
Meine andauernde Inhaftierung ohne Urteil wird allgemein bekannt. Clemenceau darf mich besuchen und schlägt danach in L’Aurore vor, mich für den Posten des Staatsgefangenen Nummer 1 zu nominieren, der seit dem Mann mit der eisernen Maske unbesetzt ist. Wenn abends das Licht gelöscht wird und ich nicht mehr lesen kann, höre ich die Menschen, die auf der Rue du Cherche-Midi für wie auch gegen mich demonstrieren. Siebenhundert Soldaten müs sen das Gefängnis bewachen. Die Hufe der Kavalleriepferde klappern auf dem Kopfsteinpflaster. Ich erhalte Tausende von Unterstützerbriefen, darunter einen von der alten Kaiserin Eugénie. Das alles wird so peinlich für die Regierung, dass Labori von Beamten des Justizministeriums gebeten wird, beim Zivilgericht auf meine Freilassung zu dringen. Ich verweigere meine Zustimmung. Als Geisel bin ich nütz licher. Mit jedem Tag hinter Gittern steht die Armee ver zweifelter und rachsüchtiger da.
Monate vergehen. Doch dann, am 3 . Juni 1 89 9 , einem Samstagnachmittag, kommt Labori mich besuchen. Die Sonne scheint so grell, dass ihre Strahlen sogar das verdreckte Glas meines winzigen
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