Intrige (German Edition)
wo er in dieselben Räume gesperrt wird wie ich im Winter. Nach einer schlaflosen Nacht schreibt er am nächsten Tag an Gonse (»Ich bitte Sie hochachtungsvoll, mich zu besuchen, weil ich unbedingt mit Ihnen sprechen muss«) und an seine Frau (»Meine verehrte Berthe, ich begreife nun, dass mich außer Dir alle im Stich lassen; nur Du weißt, in wessen Interesse ich gehandelt habe«).
Ich sehe ihn um die Mittagszeit ausgestreckt auf seinem Bett liegen und eine Flasche Rum trinken – das ist das letzte Mal, dass man ihn lebend gesehen hat – und dann sechs Stunden später, als ein Leutnant und ein Ordonnanzoffizier den Raum betreten und ihn finden: auf dem blutgetränkten Bett liegend, der Leichnam schon kalt und steif, die Kehle durch zwei Schnitte aufgeschlitzt mit einem Rasiermesser, das er – höchst merkwürdig – mit der linken Hand umklammert hält, obwohl er Rechtshänder ist.
Aber für den Zeitraum zwischen diesen beiden Bildern – zwischen Mittag und sechs Uhr abends, zwischen dem lebenden und dem toten Henry – versagt meine Vorstellungskraft. Labori glaubt, dass er wie Lemercier-Picard ermordet wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen, und dass sein Selbstmord inszeniert war. Er zitiert befreundete Ärzte, die behaupten, ein Mensch könne sich unmöglich die Halsschlagader an beiden Seiten durchtrennen. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Mord überhaupt nötig war, nicht bei einem Menschen wie Henry. Nachdem Boisdeffre und Gonse keine Anstalten gemacht haben, ihn zu verteidigen, wusste er, was man von ihm erwartete.
Ich erhalte den Befehl, einen Mann zu erschießen, also erschieße ich ihn.
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Am gleichen Nachmittag, etwa zur gleichen Zeit, als Henrys Blut sein Bett durchtränkt, schreibt Boisdeffre an den Kriegsminister:
Herr Minister,
gerade habe ich den Beweis erhalten, dass mein Vertrauen in Oberstleutnant Henry, Leiter der Geheimdienstabteilung, nicht gerechtfertigt war. Dieses bedingungslose Ver trauen hat mich dazu verführt, ein gefälschtes Dokument für authentisch zu erklären und Ihnen dieses als solches vorzulegen.
Unter diesen Umständen ersuche ich Sie hochachtungsvoll, mich von meinen Pflichten zu entbinden.
Boisdeffre
Er zieht sich sofort in den Ruhestand in die Normandie zurück.
Drei Tage später tritt auch Cavaignac zurück, wenn auch nicht ohne Widerspruch (»Ich bin nach wie vor von Dreyfus’ Schuld überzeugt und so entschlossen wie eh, gegen eine Wiederaufnahme des Prozesses zu kämpfen«). Pellieux reicht seinen Abschied ein. Gonse muss das Kriegsministerium verlassen und geht bei Halbsold zu seinem Regiment zurück.
Wie die meisten Menschen gehe ich davon aus, dass damit alles ausgestanden ist. Wenn Henry die Fälschung eines Dokuments organisieren konnte, dann wird man einsehen, dass er das auch noch viele weitere Male konnte und dass damit der Fall Dreyfus in sich zusammengefallen ist.
Aber die Tage vergehen, und er ist immer noch auf der Teufelsinsel, und ich bin immer noch in La Santé. Allmählich wird klar, dass die Armee auch jetzt noch nicht gewillt ist, ihren Fehler einzugestehen. Mein Antrag auf Strafaussetzung wird abgelehnt. Stattdessen erhalte ich eine amtliche Mitteilung, dass ich mich in drei Wochen zusammen mit Louis vor einem normalen Strafgericht wegen gesetzwidriger Weitergabe von Geheimdokumenten zu verant worten habe.
Am Tag vor der Verhandlung besucht mich Labori im Gefängnis. Normalerweise ist er überschwänglich, ja streitlustig, aber diesmal sieht er besorgt aus. »Leider habe ich schlechte Nachrichten. Die Armee bringt neue Anschuldigungen gegen Sie vor.«
»Was ist es jetzt wieder?«
»Fälschung.«
»Sie werfen mir Fälschung vor?«
»Ja, sie behaupten, Sie hätten das Petit Bleu gefälscht.«
Ich kann nur lachen. »Humor haben sie, das muss man ihnen lassen.«
Aber Labori ist nicht nach Lachen zumute. »Sie werden argumentieren, dass eine militärische Untersuchung des Fälschungsvorwurfs Vorrang vor einem Zivilverfahren hat. Mit der Strategie wollen sie erreichen, dass Sie zurück in den Gewahrsam der Armee überführt werden. Ich nehme an, der Richter wird zustimmen.«
»Was soll’s«, sage ich achselzuckend. »Schätze, ein Gefängnis ist wie das andere.«
»Und genau damit liegen Sie falsch, mein Freund. Die Behandlung im Gefängnis Cherche-Midi ist wesentlich rüder als hier. Außerdem gefällt mir der Gedanke nicht, dass Sie in die Fänge der Armee geraten. Wer weiß, was Ihnen da für Unfälle zustoßen
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