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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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seiner Offiziere damit beauftragt, die gesamte Dreyfus-Akte auf ihre Echtheit zu überprüfen. Da die Akte inzwischen auf 360 Einzelpunkte angeschwollen war, erforderte das viel Zeit. Und während dieser Überprüfung habe ich Henry in Fabres Richterzimmer zum letzten Mal getroffen. Ich verstehe jetzt, warum er einen so gebrochenen Eindruck auf mich gemacht hat. Er muss geahnt haben, was auf ihn zukommt. Cavaignacs Mann tat etwas, worauf in knapp zwei Jahren anscheinend niemand im Generalstab gekommen war: Er hielt den angeblich sicheren Beweis unter eine starke elektrische Lampe. Da bei fiel ihm sofort auf, dass die Anrede des Briefs – Mein lieber Freund – und die Unterschrift – Alexandrine – auf kariertem Papier geschrieben waren, dessen Linien blau grau waren, während der Text des Briefs – Ich habe gelesen, dass ein Abgeordneter Fragen zu Dreyfus stellen wird … – auf Papier mit blasslila Linien geschrieben war. Es war offensichtlich, dass ein Originalbrief, den man schon früher aus Einzelteilen zusammengefügt hatte – und zwar im Juni 1 89 4 –, neu auseinandergenommen und dann mit einem gefälschten Mittelteil wieder zusammengesetzt worden war.
    Henry wurde ins Kriegsministerium zitiert, um sich in Gegenwart von Boisdeffre und Gonse zu erklären. Laut dem von der Regierung veröffentlichten Protokoll der Befragung durch Cavaignac versuchte er zunächst, sich großmäulig herauszureden:
    H ENRY : Ich habe die Einzelteile so zusammengesetzt, wie ich sie bekommen habe.
    C AVAIGNAC : Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihnen nichts gefährlicher werden kann, als wenn Sie uns keine Erklä rung liefern können. Erzählen Sie mir, was Sie getan haben.
    H ENRY : Was soll ich Ihnen sagen?
    C AVAIGNAC : Sie sollen mir eine Erklärung dafür liefern, warum eines der Schriftstücke hellviolette und das andere blaugraue Linien hat.
    H ENRY : Das kann ich nicht.
    C AVAIGNAC : Die Tatsache ist unbestreitbar. Bedenken Sie die Konsequenzen Ihrer Antwort.
    H ENRY : Was soll ich Ihnen erzählen?
    C AVAIGNAC : Was Sie getan haben.
    H ENRY : Ich habe keine Dokumente gefälscht.
    C AVAIGNAC : Also bitte! Sie haben Bruchstücke des einen Schriftstücks in das andere eingefügt.
    H ENRY : [nach kurzem Zögern] Nun ja, ich bin eben darauf gekommen, weil die beiden Sachen so gut zusammengepasst haben.
    Ist das Protokoll korrekt? Labori glaubt nicht, aber ich bin mir dessen einigermaßen sicher. Nur weil die Regierung manchmal lügt, heißt das nicht, dass sie immer lügt. Kein Theaterautor könnte die Stimme Henrys so authentisch nachempfinden, wie ich sie beim Lesen des Protokolls höre – aufgeblasen, eingeschnappt, schmeichelnd, gerissen, dumm.
    C AVAIGNAC : Was hat Sie auf die Idee gebracht?
    H ENRY : Meine Vorgesetzten haben sich große Sorgen ge macht. Ich wollte sie beruhigen. Ich wollte ihnen ihren Seelenfrieden wiedergeben. Ich habe mir gesagt: Warum nicht eine Kleinigkeit hinzufügen? Stell dir vor, wir hätten Krieg.
    C AVAIGNAC : Und Sie haben das ganz allein gemacht?
    H ENRY : Ja, Gribelin hat nichts davon gewusst.
    C AVAIGNAC : Niemand hat davon gewusst? Überhaupt niemand?
    H ENRY : Ich habe es für mein Land getan. Es war ein Fehler.
    C AVAIGNAC : Und die Umschläge?
    H ENRY : Mit den Umschlägen habe ich nichts angestellt, das schwöre ich! Warum hätte ich das tun sollen?
    C AVAIGNAC : Ich rekapituliere: Sie haben 1 89 6 einen Umschlag mit einem Brief erhalten, einem belanglosen Brief. Sie haben den Brief zurückgehalten und eine Fälschung hergestellt.
    H ENRY : Ja.
    In der Dunkelheit meiner Zelle spiele ich diese Szene immer wieder durch. Ich sehe Cavaignac hinter seinem Schreibtisch – den von Ehrgeiz getriebenen jungen Minister, den Besessenen mit dem tollkühnen Glauben, diese Affäre ein für alle Mal beenden zu können, der nun über seine eigene Hybris stolpert. Ich sehe Gonse, wie er mit der Zigarette in der zitternden Hand die Befragung verfolgt. Ich sehe Boisdeffre, der so stoisch und unnahbar wie einer der Steinlöwen, die zweifellos das Tor seines herrschaftlichen Familiensitzes bewachen, am Fenster steht und ins Leere starrt. Und ich sehe Henry, auf den die Fragen niederprasseln und der stumm flehend seine Vorgesetzten anschaut: Helft mir! Die aber natürlich nichts sagen.
    Und dann stelle ich mir Henrys Gesichtsausdruck vor, als Cavaignac – ein Zivilist als Kriegsminister, kein Soldat – ihn an Ort und Stelle verhaften lässt und befiehlt, ihn in die Festung Mont-Valérien zu bringen,

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