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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Zellenfensters durchdringen. Ich höre einen Vogel zwitschern. Labori legt seine große, dunkle Handfläche auf das Metallgitter. »Picquart, ich möchte Ihnen die Hand schütteln«, sagt er.
    »Warum?«
    »Müssen Sie immer so verdammt widerspenstig sein?« Er rüttelt mit seinen langen, dicken Fingern an den Eisenstäben. »Na los, tun Sie einmal das, was ich Ihnen sage!« Ich lege meine Handfläche gegen seine. »Herzlichen Glückwunsch, Georges«, sagt er leise.
    »Wozu?«
    »Das Oberste Berufungsgericht hat gerade entschieden, dass die Armee Dreyfus für ein Wiederaufnahmeverfahren zurückholen muss.«
    So lange habe ich auf diese Nachricht gewartet, und doch fühle ich nichts. »Mit welcher Begründung?« ist alles, was ich sagen kann.
    »Sie haben zwei Gründe angeführt, beide aus Ihrem Beweismaterial: Erstens, dass sich der Lump-D-Brief tatsächlich nicht auf Dreyfus bezieht und dass er den Richtern nicht hätte vorgelegt werden dürfen, ohne die Verteidigung darüber zu informieren. Und zweitens, dass … wie haben sie das genannt? Ah ja, hier steht es: ›Tatsachen, von denen die Richter im ersten Kriegsgerichtsprozess keine Kenntnis hatten, legen nahe, dass Dreyfus nicht der Verfasser des Bordereaus sein kann.‹«
    »Juristen und ihre Sprache!« Ich lasse mir den Juristenjargon auf der Zunge zergehen, als wäre er eine Delikatesse. »Tatsachen, von denen die Richter im ersten Kriegsgerichtsprozess keine Kenntnis hatten, legen nahe … Und die Armee kann dagegen keine Berufung einlegen?«
    »Nein. Das ist durch. Es ist schon ein Kriegsschiff unterwegs, das Dreyfus für das neue Verfahren zurückholen soll. Und diesmal wird es kein Geheimprozess werden, diesmal wird die ganze Welt zuschauen.«

23
    Am folgenden Freitag werde ich aus dem Gefängnis entlassen, am gleichen Tag, als das Kriegsschiff Sfax mit Dreyfus an Bord von der Teufelsinsel ablegt und sich auf die lange Reise nach Frankreich macht. Die Entscheidung des Obersten Gerichts besagt, dass alle Anklagen gegen mich aufge hoben sind. Edmond holt mich mit seinem neuesten Spielzeug, einem Automobil, am Gefängnistor ab, um mich nach Ville-d’Avray zu bringen. Den Journalisten, die mich auf dem Trottoir bedrängen, verweigere ich jeden Kommentar.
    Die unerwartete Wendung meines Schicksals verwirrt mich. Die schiere Lebendigkeit der Farben und Geräusche des frühsommerlichen Paris, die lächelnden Gesichter meiner Freunde, die Mittagessen, Bankette und Empfänge, die zu meinen Ehren gegeben werden – all das überwältigt mich nach dem einsiedlerischen Trübsinn und der abgestandenen Luft in meiner Zelle. Erst jetzt, als ich wieder Kontakt zu anderen Menschen habe, erkenne ich, wie sehr mich das alles mitgenommen hat. Konversation mit mehr als einer Person bringt mich aus dem Gleichgewicht. Meine Stimme kommt mir schrill vor, ich gerate schnell außer Atem. Als Edmond mich in mein Zimmer bringt, muss ich auf der Treppe alle drei, vier Stufen stehen bleiben und mich am Handlauf festhalten. Die Muskeln, die meine Knie und Gelenke bewegen, sind kraftlos geworden. Mein Spiegelbild ist blass und fett. Beim Rasieren entdecke ich im Schnauzbart weiße Haare.
    Edmond und Jeanne laden Pauline ein und geben ihr taktvollerweise das Zimmer neben meinem. Beim Abendessen hält sie unter dem Tisch meine Hand, und später, als alle schon schlafen, kommt sie in mein Zimmer und schlüpft zu mir ins Bett. Ihr zarter Körper ist vertraut und fremd zugleich, wie die Erinnerung an ein früheres Leben, das man verloren hat. Sie ist endlich geschieden, Philippe hat sich ins Ausland versetzen lassen. Sie hat eine eigene Wohnung, die Mädchen leben bei ihr.
    Wir liegen im Kerzenschein im Bett und schauen uns an.
    Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht. Um Augen und Mund sehe ich Falten, die früher nicht da waren. Ich kenne sie seit Kindertagen. Wir sind zusammen alt geworden. Plötzlich empfinde ich eine überwältigende Zärtlichkeit für sie. »Dann bist du jetzt also ein freier Mensch.«
    »Ja.«
    »Möchtest du, dass ich dich bitte, meine Frau zu werden?«
    Eine Pause.
    »Nein, nicht besonders.«
    »Warum?«
    »So wie du die Frage stellst, Liebling, glaube ich nicht, dass eine Heirat sehr sinnvoll wäre, oder?«
    »Tut mir leid. Ich bin nicht mehr sonderlich geübt in Kon versation, geschweige denn in solcher. Ich versuche es noch einmal. Willst du meine Frau werden?«
    »Nein.«
    »Ernsthaft, du gibst mir einen Korb?«
    Sie denkt kurz nach, bevor sie antwortet. »Du

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