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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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vollen Schalterhalle mich erkennen. Rufe wie »Es lebe Picquart!« sind zu hören, die sofort von höhnischem Buhen erwidert werden. Doch schon im nächsten Augenblick sitzen wir in den Wagen und fahren auf einer breiten, von Bäumen, Hotels und Cafés gesäumten Straße.
    Nach kaum dreihundert Metern dreht sich der Kommissar, der neben dem Fahrer sitzt, zu uns um und zeigt aus dem Fenster. »Da findet der Prozess statt.«
    Ich weiß, dass die Verhandlung in die Turnhalle einer Schule verlegt wurde, um dem Ansturm der Presse und der Zuschauer Herr zu werden. Aber aus irgendeinem Grund habe ich mir einen tristen Gemeindebau vorgestellt und nicht so ein prächtiges Gebäude, ein Symbol ländlichen Stolzes, das fast wie ein Herrenhaus aussieht: vier Stockwerke mit hohen Fenstern, rosa Ziegel und helle Steine, gekrönt von einem hoch aufragenden Dach. Gendarmen bewachen die Absperrung, Arbeiter entladen einen Karren mit Bauholz.
    Wir biegen um eine Ecke.
    »Und das ist das Militärgefängnis, in dem Dreyfus sitzt«, fügt der Kommissar kurz darauf hinzu.
    Es befindet sich genau gegenüber vom Seiteneingang der Schule. Der Fahrer drosselt das Tempo, und ich erhasche einen flüchtigen Blick auf das große Tor, das in eine hohe, mit Eisenspitzen bewehrte Mauer eingelassen ist, und die vergitterten Fenster der Festung dahinter. Auf der Straße patrouilliert Kavallerie, Infanteristen stehen einer kleinen gaffenden Menschenmenge gegenüber. Als Connaisseur zeitge nössischer Gefängnisse würde ich sagen, es sieht grausig aus. Dreyfus ist jetzt seit einem Monat dort eingesperrt.
    »Merkwürdiger Gedanke, dass wir dem armen Burschen so nahe sind«, sagt Edmond. »In welcher Verfassung er wohl ist?«
    •
    Das ist es, was jeder wissen will. Das hat dreihundert Journalisten aus aller Welt in diesen verschlafenen Winkel Frank reichs gelockt. Das ist der Grund dafür, dass eigens Tele grafisten angeheuert wurden, die die voraussichtliche Menge von 70 0 000 Wörtern pro Tag verarbeiten können, dass die Behörden sich genötigt sahen, in der Bourse de Commerce einhundertfünfzig Schreibtische für die Reporter aufzu stellen, dass vor dem Militärgefängnis Kinematografen auf Stativen stehen, um vielleicht ein paar Sekunden mit ver wackelten Bildern von dem Häftling beim Hofgang einzufangen, und dass Königin Viktoria den Lord Chief Justice of England zur Beobachtung des Prozessbeginns entsandt hat.
    Seit seiner Rückkehr nach Frankreich ist es nur vier Zivilisten gestattet worden, mit ihm zu sprechen: Lucie und Mathieu sowie seinen beiden Anwälten, dem treuen Edgar Demange, seinem Anwalt aus dem ersten Militärgerichtsprozess, und Labori, der von Mathieu hinzugezogen wurde und die Armee aggressiv unter Druck setzen soll. Ich habe mit keinem von ihnen gesprochen. Was ich über den Zustand des Häftlings weiß, habe ich in der Zeitung gelesen:
    Bei Dreyfus’ Ankunft in Rennes ließ der Präfekt Madame Dreyfus ausrichten, dass sie noch am gleichen Morgen ihren Mann sehen könne. Um 8 Uhr 30 ging sie zu Fuß zum Gefängnis. Sie wurde von ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder begleitet. Nur ihr wurde der Zutritt zu seiner Zelle im ersten Stock gestattet. Sie blieb bis 1 0 Uhr 1 5. Ein Hauptmann der Gendarmerie war anwesend, hielt sich jedoch diskret im Hintergrund. Sie soll ihren Mann we niger verändert angetroffen haben, als sie es befürchtet hatte, machte beim Verlassen des Gefängnisses aber dennoch einen sehr niedergeschlagenen Eindruck.
    Edmond hat bei einer gewissen verwitweten Madame Aubry Zimmer für uns gemietet. Das hübsche, von Glyzinen überwucherte Haus mit weißen Fensterläden befindet sich in der Rue de Fougères, einer ruhigen Wohnstraße. Eine niedrige Mauer trennt den winzigen Vorgarten von der Straße. Davor hat ein Gendarm Posten bezogen. Das Haus steht auf einem Hügel, nur einen Kilometer vom Gerichtssaal entfernt. Wegen der Sommerhitze beginnen die Sitzungen um sieben Uhr morgens und enden um Mittag. Wir haben vor, jeden Morgen sehr früh zu Fuß zum Gericht zu gehen.
    Am Montag stehe ich um fünf auf. Die Sonne ist zwar noch nicht aufgegangen, aber zum Rasieren ist es hell genug. Ich lege einen feinen Gehrock an und stecke das Band der Ehrenlegion ins Knopfloch. Die Ausbuchtung des Webleys in meinem Schulterhalfter ist kaum zu sehen. Dann nehme ich Spazierstock und Zylinder, klopfe an Edmonds Tür, und mit den beiden Gendarmen im Schlepp gehen wir den Hügel hinunter zum Fluss.
    Die Häuser, an denen

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