Intrige (German Edition)
wir vorbeikommen, sind solide Villen des wohlhabenden Bürgertums. Die Fensterläden sind geschlos sen. Hier oben schlafen die Menschen noch, während unten am Fluss schon Wäscherinnen mit Spitzenhauben kör beweise schmutzige Wäsche auf die Ziegelstufen der Uferböschung kippen und drei Männer in Zuggeschirren einen Lastkahn mit Gerüstbalken und Leitern ziehen. Als wir – zwei Herren mit Zylinder, gefolgt von zwei Gendarmen – an ihnen vorbeigehen, drehen sie sich um und betrachten uns so gleichgültig, als wäre unser Anblick etwas völlig Normales um diese Uhrzeit.
Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Es ist schon heiß. Das trübe Wasser des Flusses ist algengrün. Wir gehen über eine Brücke, biegen in die Straße zur Schule ein und sehen uns einer Doppelreihe berittener Gendarmen gegenüber, die die leere Straße absperrt. Nachdem unsere Papiere kontrolliert worden sind, stellen wir uns an einer kurzen Schlange an und werden durch eine schmale Tür eingelassen. Wir gehen ein paar Steinstufen hinauf, dann durch eine weitere Tür, dann an einer Reihe Infanteristen mit aufgepflanztem Bajonett vorbei und stehen plötzlich im Gerichtssaal.
Der Raum ist etwa zwanzig Meter lang, fünfzehn Meter breit und zwei Stockwerke hoch. Durch zwei übereinander angeordnete Fensterreihen an den Längsseiten fällt klares bretonisches Tageslicht ins Innere. In dem luftigen Raum drängen sich mehrere Hundert Menschen. Am Kopfende be findet sich ein Podium, auf dem ein Tisch und sieben Stühle mit purpurfarben gepolsterten Rückenlehnen stehen. An der Wand dahinter hängt ein an ein schwarzes Kreuz genagelter Christus aus Gips. In der Mitte vor dem Podium stehen sich die Tische und Stühle für Verteidigung und Anklage gegenüber. An den Seiten reihen sich über die gesamte Länge des Raumes die schmalen Tische und Bänke für die Vertreter der Presse aneinander, die die Mehrheit der Anwesenden stellen. Im hinteren Teil, abgetrennt durch eine Reihe Infanteristen, befindet sich der Zuschauerraum, dessen mittlerer Abschnitt für die Zeugen reserviert ist. Und hier sehen wir uns alle wieder, wie Figuren in einem wiederkehrenden Traum, dazu verdammt, sich auf ewig zu umkreisen – Boisdeffre, Gonse, Billot, Pellieux, Lauth, Gribelin. Wir vermeiden peinlich jeden Blickkontakt.
»Pardon«, sagt hinter mir jemand mit einer leise krächzenden Stimme, die mir die Nackenhaare aufstellt. Ich trete zur Seite, und ohne mich anzuschauen, drückt sich Mercier an mir vorbei. Er geht durch den Gang und setzt sich zwischen Gonse und Billot. Sofort beginnen die Generäle ein flüsterndes Konklave. Boisdeffre sieht angeschlagen aus, sein Blick ist leer – es heißt, er sei zum Einsiedler geworden. Billot streicht sich abwesend über den Schnauzbart. Gonse nickt unterwürfig. Pellieux hat sich halb abgewendet. Der inzwischen pen sionierte Mercier gestikuliert mit der Faust, er ist plötzlich wieder der Mann, der das Sagen hat. Er ist das Sprachrohr für die Sache der Armee. »In dieser Affäre muss es eine schuldige Partei geben«, hat er vor der Presse erklärt. »Und diese schuldige Partei ist entweder Dreyfus oder bin ich. Wenn ich es nicht bin, dann ist es Dreyfus. Dreyfus ist ein Verräter. Das werde ich beweisen.« Sein ledriges, maskenhaftes Gesicht wendet sich kurz zu mir um. Mit zusammengekniffenen Augen nimmt er mich für einen Augenblick ins Visier.
Es ist fast sieben. Ich setze mich direkt hinter Mathieu Dreyfus, der sich umdreht und mir die Hand schüttelt. Lucie nickt mir zu und ringt sich ein kurzes, angespanntes Lächeln ab. Ihr Gesicht ist so blass wie ein Mittagsmond. Die Anwälte in ihren schwarzen Roben und den merkwürdigen konischen schwarzen Hüten auf dem Kopf erscheinen in der Tür, wobei der riesige Labori mit theatralisch ausladender Geste dem älteren Demange den Vortritt lässt. Dann ertönt von hinten der Ruf »Präsentiert das Gewehr!«, fünfzig Stiefel stampfen in Habtachtstellung auf den Boden, und die Richter, angeführt vom dem zwergenhaften Oberst Jouaust, betreten nacheinander den Saal. Der buschige, weiße Schnauz bart des Obersten, der sogar noch größer ist als der von Billot, ist so gewaltig, dass der Mann darüber hinwegzuschielen scheint. Er steigt auf das Podium und setzt sich auf den Stuhl in der Mitte. »Bringen Sie den Angeklagten herein«, sagt er mit trockener, harter Stimme.
Der Gerichtsdiener, ein Feldwebel, geht zu einer Tür neben dem Richterpodium. In der plötzlichen Stille hallen
Weitere Kostenlose Bücher