Intrige (German Edition)
seine Schritte laut wider. Er öffnet die Tür, und zwei Männer erscheinen. Einer ist ein Offizier, der andere Dreyfus. Die Zuschauer, auch ich, stöhnen auf, denn er ist ein alter Mann – ein kleiner alter Mann mit steifem Gang, der so abgemagert ist, dass ihm der Uniformrock lose am Leib herabhängt. Die Hosen schlottern um seine Knöchel. Er geht mit unsicheren Schritten in die Mitte des Gerichtssaals und hält vor den Stufen des Podiums, auf dem seine Anwälte sitzen, kurz inne, als müsste er erst frische Kräfte sammeln. Dann geht er schwerfällig die Stufen hinauf, hebt die rechte, in einem weißen Handschuh steckende Hand, salutiert vor den Richtern und nimmt dann die Mütze ab, unter der ein fast vollständig kahler Schädel zum Vorschein kommt. Nur ein paar silbrige Strähnen am Hinterkopf fallen auf seinen Kragen. Er setzt sich, und der Urkundsbeamte verliest die Gerichtsverfassung. Dann sagt Jouaust: »Angeklagter, erheben Sie sich.«
Mühsam steht Dreyfus auf.
»Wie heißen Sie?«
Die Antwort ist in der Stille kaum zu hören. »Alfred Dreyfus.«
»Alter?«
»Neununddreißig.« Wieder entsetztes Raunen.
»Geburtsort?«
»Mülhausen.«
»Rang?«
»Hauptmann, vorübergehend zum Generalstab abgeordnet.« Alle beugen sich vor und spitzen die Ohren. Er ist nur schwer zu verstehen. Anscheinend hat er vergessen, wie man ganze Sätze formuliert. Außerdem ist wegen seiner Zahnlücken ständig ein pfeifendes Geräusch zu hören.
Weitere verfahrenstechnische Punkte werden abgehakt, ehe Jouaust auf die Anklage zu sprechen kommt. »Sie werden des Verbrechens des Hochverrats beschuldigt, die in einem als Bordereau bezeichneten Schriftstück aufgeführ ten Dokumente an einen Agenten einer ausländischen Macht weitergegeben zu haben. Das Gesetz gibt Ihnen das Recht, sich zu Ihrer Verteidigung zu äußern. Hier ist der Bordereau.«
Er nickt einem Gerichtsbeamten zu, der dem Häftling den Bordereau überreicht. Dreyfus studiert ihn. Er zittert, ist einem Kollaps nahe. Schließlich antwortet er mit seiner eigentümlichen Stimme, die selbst dann noch ausdruckslos klingt, wenn sie voller Emotionen ist. »Ich schwöre, dass ich unschuldig bin, Herr Oberst. So wie ich es schon 1 89 4 an Eides statt versichert habe.« Er hält inne. Es ist eine Qual, ihm beim Ringen um Haltung zuzuschauen. »Ich kann alles ertragen, Herr Oberst, aber ich wiederhole noch einmal, um der Ehre meines Namens und meiner Kinder willen, ich bin unschuldig.«
•
Jouaust geht mit Dreyfus den gesamten Inhalt des Bordereaus durch, Punkt für Punkt. Seine Fragen sind barsch und an klagend. Dreyfus antwortet auf seine trockene, mechanische Art, als wäre er ein Sachverständiger in irgendeinem beliebigen Prozess: nein, er wusste nichts von der hydraulischen Bremse des 1 2 0-Millimeter-Geschützes; ja, er hätte sich Informationen über Bedeckungstruppen beschaffen können, aber er hat nie danach gefragt; das Gleiche trifft auf die Invasionspläne für Madagaskar zu – er hätte danach fragen können, hat es aber nie getan; nein, der Herr Oberst irrt – er war nicht in der Dritten Abteilung, als die Artillerieformationen verändert wurden; nein, der Offizier irrt, der behauptet, er habe sich von ihm eine Kopie der Schießvorschrift ausgeliehen – diese hat sich nie in seinem Besitz befunden; nein, er hat nie gesagt, dass es Frankreich unter deutscher Herrschaft besser gehe, natürlich nicht.
Die Sonne, die durch die doppelreihigen Fenster scheint, heizt den Gerichtssaal auf wie ein Treibhaus. Alle schwitzen, nur Dreyfus nicht. Vielleicht weil er die Tropen gewohnt ist. Nur einmal noch setzen ihm seine Gefühle arg zu. Und zwar als Jouaust auf die alte Falschmeldung zu sprechen kommt, dass er am Tag seiner Degradierung gegenüber Hauptmann Lebrun-Renault ein Geständnis abgelegt habe.
»Ich habe nicht gestanden.«
»Aber es gibt noch andere Zeugen.«
»Ich kann mich an keine erinnern.«
»Worum ging es dann in Ihrer Unterhaltung?«
»Das war keine Unterhaltung, Herr Oberst. Es war ein Monolog. Ich sollte wenige Minuten später einer riesigen, bebenden Menschenmenge vorgeführt werden, die in ihrem Patriotismus tief getroffen war, und ich habe zu Hauptmann Lebrun-Renault gesagt, dass ich am liebsten jedem Einzelnen ins Gesicht schreien würde, dass ich unschuldig sei. Ich wollte einfach sagen, dass ich nicht der Schuldige bin. Das war kein Geständnis.«
Um elf schließt Jouaust die Sitzung und verkündet, dass die nächsten vier
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