Intrige (German Edition)
nein. Sollte ich andererseits das Kriegsgericht in Unkenntnis lassen über die Vorwürfe gegen Dreyfus? Diese Dokumente …« Er klopft auf die Mappe, die vor ihm auf der hölzernen Ablage liegt. »… sind das, was damals das Geheimdossier genannt wurde, und ich betrachtete es als unerlässlich, sie dem Gericht zukommen zu lassen. Hätte ich mich nicht auf die relative Vertraulichkeit eines Prozesses hinter verschlossenen Türen verlassen können? Nein, ich habe kein Vertrauen in verschlossene Türen. Früher oder später gelangt die Presse in den Besitz der Schriftstücke und macht sie trotz aller Drohungen der Regierung öffentlich. Unter diesen Um ständen hielt ich es für angeraten, die geheimen Unterlagen in einem versiegelten Umschlag an den Vorsitzenden des Kriegsgerichts zu schicken.«
Dreyfus sitzt jetzt kerzengerade da und schaut Mercier an. In seinem Gesicht spiegelt sich äußerste Verwunderung und zum ersten Mal etwas, was weit darüber hinausgeht: glühender Zorn.
Mercier bemerkt nichts davon, weil er peinlich darauf achtet, Dreyfus nicht anzusehen. »Gestatten Sie mir zum Abschluss noch eine Bemerkung«, sagt er. »Ich habe mein hohes Alter nicht erreicht, ohne die traurige Erfahrung machen zu müssen, dass alles Menschliche dem Irrtum unterworfen ist. Aber wenn ich auch geistig träge bin, wie Monsieur Zola behauptet hat, so bin ich doch zumindest ein aufrichtiger Mann und der Sohn eines aufrichtigen Vaters. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel gehegt hätte, dann wäre ich der Erste gewesen, diesen Zweifel zu äu ßern …« Jetzt wendet er sich doch noch an Dreyfus. »… und vor aller Welt zu sagen: Hauptmann Dreyfus, ich habe in gutem Glauben gehandelt, aber ich habe einen Fehler begangen …«
Die billige Theatralik ist zu viel für Dreyfus. Mit un glaublicher Behändigkeit, ohne die geringste Spur von Steifheit in den Beinen, springt er plötzlich auf, schwingt, als wollte er Mercier schlagen, die geballte Faust und brüllt mit schauriger Stimme, halb kreischend, halb schluchzend: »Dann sagen Sie es jetzt!«
Jeder im Saal zieht hörbar die Luft ein. Die Gerichtsdiener sind wie erstarrt. Nur Mercier scheint völlig ungerührt zu sein. Er beachtet die Gestalt, die drohend vor ihm steht, gar nicht, sondern spricht weiter. »Ich würde zu Hauptmann Dreyfus sagen: Ich bedaure meinen Fehler aufrichtig, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um diesen fürchterlichen Fehler zu korrigieren.«
Dreyfus steht immer noch mit erhobener Faust vor ihm und schaut auf ihn hinunter. »Das ist Ihre Pflicht! «
Beifall wird laut. Vor allem die Journalisten applaudieren. Auch ich klatsche.
Mercier lächelt fein, schüttelt den Kopf, als hätte er es mit einer Horde überempfindlicher Kinder zu tun, und wartet, bis der Beifall wieder verstummt. »Aber dem ist nicht so. Ich habe meine Überzeugung seit 1 89 4 nicht im Mindesten ändern müssen. Ich fühle mich in ihr sogar bestärkt, nicht nur aufgrund des eingehenden Studiums des Geheimdossiers, sondern auch wegen der jämmerlichen Kampagne derjenigen, die mit verzweifelten Bemühungen und Millionen von Francs Dreyfus’ Unschuld beweisen wollten. Und damit ist alles gesagt.«
Mercier schiebt die Schriftstücke in die Ledermappe und verschließt sie, steht auf, verneigt sich vor den Richtern und nimmt seine Mütze von der Ablage. Dann dreht er sich um und geht unter höhnischen Rufen auf den Ausgang zu. Als er an den Pressebänken vorbeikommt, zischt einer der Reporter – es ist Georges Bourdon vom Figaro: »Attentäter!«
Mercier bleibt stehen und zeigt auf ihn. »Dieser Mann hat mich einen Attentäter genannt!«
Der Ankläger der Armee erhebt sich. »Herr Vorsitzender, ich verlange, dass der Mann wegen Ungebühr vor Gericht verhaftet wird.«
»Nehmen Sie den Mann in Gewahrsam«, sagt Jouaust zu dem Unteroffizier, der am Eingang Wache steht.
Während die Soldaten Bourdon ergreifen, steht Labori auf. »Herr Vorsitzender, ich hätte noch ein paar Fragen an den Zeugen.«
»Natürlich, Maître Labori«, sagt Jouaust und schaut kühl auf seine Uhr. »Allerdings ist es schon nach zwölf. Da morgen Sonntag ist, können Sie Ihre Fragen am Montag ab halb sieben stellen. Die Sitzung ist geschlossen.«
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Von seinen Mitstreitern wird Merciers Aussage als Katastrophe betrachtet, als schwere Enttäuschung, da er den versprochenen Beweis für Dreyfus’ Schuld nicht liefern konnte. Von uns wird sie als Chance gesehen, weil Labori, der allgemein
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