Intrige (German Edition)
Verhandlungstage hinter verschlossenen Türen stattfänden, damit die Richter das Geheimdossier begutachten könnten. Die Presse und die Öffentlichkeit, also auch ich, sind ausgeschlossen. Es wird mindestens noch eine Woche dauern, bevor ich meine Aussage machen kann.
Ohne nur einmal in meine Richtung zu blicken, verschwindet Dreyfus durch dieselbe Tür, durch die er gekommen ist. Alle anderen strömen hinaus in die Hitze des strahlenden Augusttages. Die Journalisten spurten zu den Telegrafisten, weil jeder seine Geschichte über den Gefangenen von der Teufelsinsel als Erster absetzen will.
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Edmond hat mit seinem Auge für die feineren Dinge des Lebens ein Restaurant in der Nähe unserer Bleibe entdeckt. »Ein verborgenes Juwel, Georges, könnte fast elsässisch sein!« Les Trois Marches ist ein rustikales Wirtshaus in der Rue d’Antrain, wo die Stadt schon in offenes Land übergeht. Gefolgt von unserer Leibwache, quälen wir uns in der sengenden Mittagshitze den Hügel zu unserem Mittagessen hinauf. Das Gasthaus entpuppt sich als der Bauernhof eines Ehepaars namens Jarlet mit Garten, Obstwiese, Ställen, Scheune und Schweinekoben. Wir sitzen auf Bänken unter einem Baum, trinken von Bienen umschwirrt Cidre und diskutieren die Ereignisse des Morgens. Edmond, der Dreyfus noch nie zuvor gesehen hat, weist auf den merkwürdigen Umstand hin, dass Dreyfus kein Mitgefühl hervorruft. »Wenn er er klärt, ich bin unschuldig, wieso fehlt seinen Worten dann jede Überzeugungskraft, obwohl jeder weiß, dass er recht hat?« Während er dies sagt, sehe ich auf der anderen Straßenseite ein paar Gendarmen, die sich miteinander unter halten.
Monsieur Jarlet bringt eine Platte Pâté de campagne. Ich mache ihn auf die Gendarmen aufmerksam. »Zwei von diesen Herren gehören zu uns, aber wer sind die anderen?«
»Die bewachen das Haus von General de Saint-Germain, Monsieur. Er ist der Kommandeur der Armee für diesen Bezirk.«
»Warum braucht er Polizeischutz?«
»Die sind nicht wegen ihm da, Monsieur. Sie sind für den Mann abgestellt, der in seinem Haus wohnt, für General Mercier.«
»Hast du das gehört, Edmond? Da drüben wohnt General Mercier.«
Edmond bricht in lautes Gelächter aus. »Ist das nicht herrlich? Dann müssen wir wohl einen ständigen Brückenkopf in Feindesland errichten.« Er wendet sich an den Wirt. »Monsieur Jarlet, ab sofort reserviere ich einen Tisch für zehn Personen, für jedes Mittag- und Abendessen, solange der Prozess dauert. Einverstanden?«
Und ob Monsieur Jarlet damit einverstanden ist. Und so beginnt die Verschwörung von Les Trois Marches, wie es die rechts stehenden Zeitungen nennen. Alle führenden Dreyfusarden treffen sich jeden Mittag und Abend bei Jarlet, um dessen gute und einfache bürgerliche Küche zu genießen. Zu den Stammgästen gehören die Brüder Clemenceau, die Sozialisten Jean Jaurès und René Viviani, die Journalisten Lacroix und Séverine und die Intellektuellen Octave Mir beau, Gabriel Monod und Victor Basch. Warum Mercier eine Leibwache zum Schutz vor diesen Radaubrüdern braucht, ist nicht ganz klar. Hat er Angst, dass Professor Monod mit einer zusammengerollten Ausgabe der Revue Historique auf ihn losgeht? Am Mittwoch bitte ich darum, dass meine Leibwächter abgezogen werden. Ich halte sie nicht nur für überflüssig, ich habe auch den Verdacht, dass sie Informationen über mich an staatliche Stellen weitergeben.
Die ganze Woche herrscht ein reges Kommen und Gehen im Trois Marches. Auch Mathieu Dreyfus lässt sich einmal blicken, nicht aber Lucie, die in der Stadt bei einer Witwe wohnt. Labori, der in unserer Nähe wohnt, wandert fast jeden Abend nach der Besprechung mit seinem Man danten im Militärgefängnis mit Marguerite den Hügel hinauf.
»Wie hält er sich?«, frage ich ihn eines Abends.
»Im Großen und Ganzen erstaunlich gut. Aber er ist schon ein seltsamer Mensch. Seit einem Monat sehe ich ihn fast jeden Tag, aber ich glaube nicht, dass ich ihn jetzt besser kenne als nach den ersten zehn Minuten. Er lässt nichts an sich herankommen. Schätze, das ist der Grund, warum er überlebt hat.«
»Und wie läuft die geheime Verhandlung? Was hält das Gericht von den Geheimdienstakten?«
»Diese Militärs sind ganz vernarrt in das Zeug! Hunderte von Seiten – Liebesbriefe, schwules Süßholzgeraspel, Tratsch, Gerüchte, Fälschungen und falsche Fährten, die nirgendwohin führen. Wie die sibyllinischen Bücher: Man kann die Blätter zusammenbasteln,
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