Intrige (German Edition)
Ziehen im Herzen. Bei einem Sprung über einen Graben stürze ich, und bis ich mich wieder aufgerappelt habe und schließlich den Waldrand erreiche, hat der Attentäter genügend Zeit gehabt, sich zu verstecken. Ich suche mir einen festen Knüppel und kämpfe mich noch eine halbe Stunde durchs Unterholz und zerhacke Farnbüsche und scheuche Fasanen auf, wobei mir die ganze Zeit bewusst ist, dass er mich beobachten könnte. Schließlich bleibe ich geschlagen mitten in dem stillen Wald stehen und mache mich dann humpelnd wieder auf den Weg zum Kanal.
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Der Rückweg ist über drei Kilometer lang, weshalb ich nicht mitbekomme, was unmittelbar nach dem Schuss passiert ist. Edmond erzählt es mir später: Er läuft zu Labori zurück, der es irgendwie geschafft hat, mit seinem riesigen Körper über die Aktentasche zu kriechen, um sich einiger Passanten zu erwehren, die ihn erkannt haben und seine Unterlagen stehlen wollen; Marguerite kommt in einem schwarz- weißen Sommerkleid zum Tatort gelaufen, wiegt ihren Mann in den Armen und wedelt ihm mit einem kleinen japanischen Fächer Luft zu; Labori liegt auf der Seite, hat den Arm um sie gelegt und spricht ruhig mit ihr, blutet aber kaum – ein schlechtes Zeichen, da es oft auf innere Blutungen hin deutet; vier Soldaten legen den riesigen Mann auf einen abmontierten Fensterladen und tragen ihn mühsam zu seiner Pension; der Arzt sagt nach der Untersuchung, dass die Kugel zwischen dem fünften und sechsten Wirbel steckt, nur Millimeter vom Rückgrat entfernt, und dass der Zustand des Patienten, der ein Bein nicht bewegen kann, ernst ist; Laboris Anwaltskollege Demange eilt mit seinen Assistenten vom Gerichtssaal herüber. Labori nimmt Demanges Hand. »Vielleicht sterbe ich, alter Junge«, sagt er. »Aber Dreyfus ist gerettet.« Und auf dem Weg reden alle darüber, dass Dreyfus im Gerichtssaal die Nachricht von dem Attentat auf seinen Anwalt ohne die geringste Regung aufgenommen hat.
Als ich wieder in die Stadt zurückkomme, ich schätze, etwa eine knappe Stunde nach dem Überfall, bietet der Tatort einen merkwürdig verwaisten Anblick – als wäre nichts geschehen. Laboris Pensionswirtin sagt mir, dass man ihn bei Victor Basch untergebracht habe, einem Dreyfusarden und Professor an der örtlichen Universität, dessen Haus in derselben Straße liegt wie Les Trois Marches, in der Rue d’Antrain. Ich gehe den Hügel hinauf, wo ich vor Baschs Tür auf eine Gruppe Journalisten treffe und zwei Gendarmen, die das Haus bewachen. Der inzwischen bewusstlose Labori liegt in einem Zimmer im Erdgeschoss auf einer Matratze. Marguerite sitzt neben ihm und hält seine Hand. Sein Gesicht ist leichenblass. Der Arzt hat einen Chirurgen zu Hilfe gerufen, der aber noch nicht eingetroffen ist. Seine eigene, vorläufige Diagnose lautet, dass eine Operation zu gefährlich sei, und man solle die Kugel am besten dort lassen, wo sie stecke. In den nächsten vierundzwanzig Stunden werde sich zeigen, wie schwer die Verletzung sei.
Im Wohnzimmer beantwortet Edmond die Fragen eines Polizeikommissars, und ich beschreibe ihm den Angreifer, schildere die Verfolgungsjagd und wo sich der Wald befinde, in dem er verschwunden sei. »Der Wald von Cesson«, sagt der Kommissar. »Ich schicke gleich einen Suchtrupp hin.« Er geht in den Flur und spricht mit einem seiner Leute.
»Alles in Ordnung mit dir?«, sagt Edmond, während der Kommissar draußen ist.
»Widerlich, was für ein körperliches Wrack ich geworden bin. Sonst bestens.« Ärgerlich schlage ich mit der Faust auf die Armlehne. »Wenn ich bloß meinen Revolver mitgenommen hätte. Ich hätte ihn locker erwischt.«
»Was meinst du, hatte er es auf Labori abgesehen oder auf dich?«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Labori, da bin ich mir ganz sicher. Sie wollten um jeden Preis verhindern, dass er Mercier ins Kreuzverhör nimmt. Bis der Prozess fort gesetzt wird, müssen wir einen Ersatz für ihn finden.«
Edmond schaut mich verwundert an. »Mein Gott, hast du das nicht mitbekommen? Jouaust hat die Verhandlung nur für eine Dreiviertelstunde unterbrochen. Demange musste schon wieder ins Gericht, um Mercier ins Kreuzverhör zu nehmen.«
»Aber Demange ist völlig unvorbereitet. Er weiß überhaupt nicht, welche Fragen er stellen muss.«
Das ist eine Katastrophe. Ich laufe an den Journalisten vorbei aus dem Haus und den Hügel hinunter zur Schule. Es fängt an zu regnen. Riesige, warme Tropfen klatschen auf das Straßenpflaster und
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