Intrige (German Edition)
Lemercier-Picard, Guénée, dieses Geheimdossier ist ein wahrer Blutpakt.«
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Am Montag stehe ich um fünf Uhr auf, rasiere mich und ziehe mich sorgfältig an. Mein Revolver liegt auf dem Nachttisch. Ich nehme die Waffe, wiege sie nachdenklich in der Hand und lege sie dann in die Kommode. Ein leises Klopfen an der Tür, dann Edmonds Stimme. »Georges, bist du fertig?«
Edmond und ich haben uns angewöhnt, nicht nur zum Mittag- und Abendessen ins Trois Marches zu gehen, sondern auch zum Frühstück. Wir sitzen in der kleinen Stube und essen Omelette mit Baguette. Bei Mercier auf der anderen Straßenseite sind die Fensterläden noch geschlossen. Vor dem Haus wandert ein gähnender Gendarm auf und ab.
Um Viertel vor sechs machen wir uns auf den Weg den Hügel hinunter. Zum ersten Mal ist der Himmel voller Regenwolken. Das Grau passt zu den Steinhäusern in der ruhigen Stadt. Die Luft ist kühler, sie ist glasig. Kurz bevor wir den Kanal erreichen, ertönt hinter uns ein lautes »Guten Morgen, meine Herren«, und Labori eilt mit großen Schritten auf uns zu. Er trägt einen dunklen Anzug und einen steifen Strohhut und schwingt eine große, schwarze Aktentasche hin und her.
»Ich glaube, heute werden wir unseren Spaß haben.«
Er scheint ausgezeichneter Laune zu sein und es gar nicht erwarten zu können, in den Ring zu steigen. Er schiebt sich zwischen uns, und zusammen, ich zu seiner Rechten, Edmond zu seiner Linken, gehen wir auf dem breiten Treidelpfad am Kanal entlang. Er hat noch eine letzte Frage zu Mercier. »War eigentlich Boisdeffre im Raum, als der Minister Sandherr angewiesen hat, das Geheimdossier verschwinden zu lassen?« Ich will ihm gerade antworten, als ich hinter uns ein Geräusch höre. Ich drehe mich halb um, um sicherzugehen, dass wir nicht belauscht werden.
Und da ist tatsächlich jemand – ein großer junger Bursche, rotes Haar, schwarze Jacke, weiße Kappe. Er zielt mit einem Revolver auf uns. Dann ein ohrenbetäubender Knall. Die Enten auf dem Fluss machen sich panisch kreischend davon. Labori stößt ein verwundertes »Oh, oh, oh …« aus und lässt sich auf ein Knie sinken, als hätte er Atemnot. Ich strecke die Hand aus, während er, die Aktentasche noch in der Hand, mit dem Gesicht nach vorn auf den Boden fällt.
Ich knie mich besorgt neben ihn. Immer noch mehr aus Verblüffung als vor Schmerzen sagt er wieder: »Oh, oh, oh …« Ziemlich genau in der Mitte des Rückens klafft ein Loch in seiner Jacke. Ich schaue wieder hoch und sehe den Attentäter in etwa hundert Metern Entfernung am Kanal entlanglaufen. Jetzt packt mich der Instinkt des Soldaten.
»Bleib hier«, sage ich zu Edmond.
Ich mache mich auf die Verfolgung des Schützen. Nach ein paar Sekunden bemerke ich, dass Edmond hinter mir herläuft. »Georges, sei vorsichtig!«, ruft er.
Ich schaue über die Schulter. »Geh zurück zu Labori!«, rufe ich und laufe schneller.
Edmond bleibt mir noch kurz auf den Fersen, dann gibt er auf. Ich senke den Kopf und zwinge mich, noch schneller zu laufen. Ich hole auf. Was genau ich tun will, sollte ich ihn einholen, weiß ich nicht. Schließlich bin ich unbewaffnet, und er hat wahrscheinlich noch fünf Kugeln in seinem Revolver. Egal, das wird sich ergeben, wenn es so weit ist. Geradeaus vor mir sehe ich ein paar Kahnführer, und ich rufe ihnen zu, sich den Mann zu schnappen. Sie schauen zu dem Flüchtenden, lassen ihre Zugtaue fallen und stellen sich dem Mann in den Weg. Ich bin jetzt nur noch zwanzig Meter von ihm entfernt, nah genug, dass ich sehen kann, wie er seine Waffe hebt und auf die Männer zielt. »Aus dem Weg!«, schreit er. »Ich habe gerade Dreyfus erschossen!«
Ob es an der Waffe liegt oder an der Großmäuligkeit, jedenfalls funktioniert es. Die Kahnführer machen ihm Platz, und er läuft weiter. Als ich an den Männern vorbeikomme, kann ich gerade noch dem Bein ausweichen, das mir einer von ihnen in den Weg stellt.
Plötzlich sind die Häuser und Fabriken verschwunden, und vor uns liegt offenes bretonisches Land. Rechts, auf der anderen Seite des Kanals, sehe ich Eisenbahngleise und einen Zug, der gerade dampfend in den Bahnhof einfährt, links Wiesen, auf denen Kühe weiden, und dahinter in der Ferne Wälder. Dann verlässt der Attentäter den Treidelpfad und läuft nach links auf die Wälder zu. Vor einem Jahr hätte ich ihn noch erwischt. Aber die Monate im Gefängnis haben mich geschlaucht. Ich bin völlig außer Atem, habe Krämpfe und spüre ein seltsames
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