Intrige (German Edition)
als der angriffslustigste Pariser Anwalt gilt, das Geheimdossier nutzen kann, um Mercier im Zeugenstand unter Druck zu setzen. Er braucht jetzt nur noch ausreichend Munition. Also gehe ich am Sonntagmorgen zu seiner Her berge, um ihm bei der Vorbereitung zu helfen. Ich habe keine Bedenken, meinen Eid zur Verschwiegenheit endgültig zu brechen. Wenn Mercier über Belange der nationalen Sicherheit reden kann, dann kann ich es auch.
»Der entscheidende Punkt ist, dass es ohne Mercier gar keine Dreyfus-Affäre gegeben hätte«, sage ich, nachdem wir uns in Laboris provisorischem Arbeitszimmer niedergelassen haben. »Es war sein Befehl, die Suche nach dem Spion auf den Generalstab zu beschränken. Das war der ursprüngliche, der fundamentale Fehler. Es war sein Befehl, Dreyfus in Einzelhaft zu stecken, um seinen Willen zu brechen. Und es war sein Befehl, das Geheimdossier zusammenzustellen.«
»Auf diese drei Punkte werde ich ihn festnageln.« Labori macht sich fleißig Notizen. »Aber wir behaupten nicht, dass er die ganze Zeit wusste, dass Dreyfus unschuldig ist, oder?«
»Ganz am Anfang hat er es nicht gewusst. Aber als Dreyfus sich geweigert hat zu gestehen und sie erkannten, dass das Einzige, was sie gegen ihn in der Hand haben, die Handschrift in dem Bordereau ist, da sind sie meiner Meinung nach in Panik geraten und haben angefangen, das falsche Beweismaterial zusammenzustellen.«
»Und Sie glauben, Mercier hat davon gewusst?«
»Hundertprozentig.«
»Woher?«
»Anfang November hat das Außenministerium ein verschlüsseltes italienisches Telegramm geknackt, das bewies, dass Panizzardi noch nie von Dreyfus gehört hatte.«
Der eifrig schreibende Labori hebt die Augenbrauen. »Und das hat man Mercier vorgelegt?«
»Ja. Man hat den entschlüsselten Text Mercier persönlich übergeben.«
Labori hört auf zu schreiben, lehnt sich zurück und klopft mit dem Stift auf das Notizbuch. »Dann muss er schon über einen Monat vor dem Kriegsgerichtsprozess gewusst haben, dass dieser sogenannte Lump-D-Brief nichts mit Dreyfus zu tun hat.« Ich nicke. »Und trotzdem hat er ihn den Richtern präsentiert und sie auch noch auf seine Bedeutung als Schuldbeweis gegen Dreyfus hingewiesen?«
»Und genau das hat er auch gestern wieder behauptet. Ziemlich dreist.«
»Und was hat die Statistik-Abteilung mit dem italienischen Telegramm angefangen? Wahrscheinlich einfach ignoriert, oder?«
»Nein, schlimmer. Sie haben das Original aus dem Kriegs ministerium vernichtet und durch eine falsche Version ersetzt, die das Gegenteil unterstellte – dass nämlich Panizzardi über Dreyfus Bescheid wusste.«
»Und der Mann, der letztlich die Verantwortung trägt, ist Mercier.«
»Nachdem ich Monate darüber nachgedacht habe, ja, das glaube ich auch. Es haben sich noch jede Menge anderer Leute die Hände schmutzig gemacht, Sandherr, Gonse, Henry, aber Mercier war die treibende Kraft. Er war es, der das Verfahren gegen Dreyfus in dem Augenblick hätte stoppen müssen, als er das Telegramm in Händen hielt. Aber er wusste, dass ihm das politisch erheblich schaden würde, wohingegen ein erfolgreicher Prozess gegen Dreyfus ihn bis in den Élysée-Palast tragen könnte. Ein dümmlicher Irrglaube, aber er ist ja im Grunde auch ein etwas beschränkter Geist.«
Labori macht sich wieder Notizen. »Und was hat es mit diesem anderen Schriftstück aus dem Geheimdossier auf sich, aus dem er gestern zitiert hat, diesem Bericht von dem Sûreté-Mann Guénée, kann ich ihn damit in die Mangel nehmen?«
»Der war gefälscht, ohne jeden Zweifel. Guénée hat behauptet, der spanische Militärattaché Marquis de Val Carlos habe ihm erzählt, dass die Deutschen einen Spion in unserem Geheimdienst hätten. Henry hat geschworen, dass Val Carlos ihm drei Monate später die gleiche Geschichte erzählt habe, was er dann im ersten Prozess gegen Dreyfus auch so wiederholt hat. Sie brauchen sich nur die Sprache anzuschauen: Da passt nichts zusammen. Ich habe Guénée gleich darauf angesprochen. Nie habe ich einen Mann mit so verschlagenen Augen gesehen.«
»Sollen wir Val Carlos als Zeugen aufrufen und ihn fragen, ob er das bestätigt?«
»Könnten Sie versuchen, aber er beruft sich sicherlich auf seine diplomatische Immunität. Warum rufen Sie nicht Guénée auf?«
»Guénée ist vor fünf Wochen gestorben.«
Ich schaue ihn überrascht an. »Woran?«
»Laut Totenschein an einem Schlaganfall.« Labori schüttelt seinen großen Kopf. »Sandherr, Henry,
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