Intrige (German Edition)
sinnvoll ist, als wäre das Schriftstück in Sanskrit verfasst, so wenig verstehe ich davon. Mir kommt der Gedanke, dass ich dafür einen Juristen brauche. Des Weiteren kommt mir der Gedanke, dass der beste Jurist, den ich kenne, mein ältester Freund Louis Leblois ist, der, wie ein merkwürdiger Zufall es will, nur zwei Gehminuten entfernt in der Rue de l’Université seine Kanzlei hat. Ich schicke ihm ein Bleu, in dem ich ihn bitte, auf dem Weg nach Hause bei mir vorbeizuschauen. Am Spätnachmittag höre ich, wie die elektrische Klingel die Ankunft von jemand meldet, und ich bin schon halb die Treppe hinuntergegangen, als mir Bachir mit Louis’ Visitenkarte entgegenkommt.
»Geht in Ordnung, Bachir, ich kenne den Mann. Schicken Sie ihn hoch.«
Zwei Minuten später stehe ich mit Louis am Fenster und zeige ihm den Garten des Ministers.
»Das ist ein höchst bemerkenswertes Gebäude, Georges«, sagt er. »Wenn ich hier vorbeigegangen bin, habe ich mich oft gefragt, wem es jetzt wohl gehört. Weißt du, was das früher mal war?«
»Nein.«
»Vor der Revolution war es das Hôtel d’Aiguillon, wo die alte Herzogin Anne-Charlotte de Crussol-Florensac ihren literarischen Salon veranstaltete. Wahrscheinlich haben Montesquieu und Voltaire genau in dem Zimmer hier gesessen!« Er wedelt sich mit der Hand vor der Nase herum. »Könnte es sein, dass ihre Leichen noch unten im Keller liegen? Was um Himmels willen treibst du hier eigentlich den ganzen Tag?«
»Das kann ich dir nicht sagen, obwohl es Voltaire bestimmt amüsiert hätte. Allerdings kann ich dir einen Auftrag zukommen lassen, wenn du interessiert bist.« Ich drücke ihm die Brieftaubenakte in die Hand. »Sag mir, ob du dir darauf einen Reim machen kannst.«
»Ich soll mir das jetzt sofort anschauen?«
»Wenn du nichts dagegen hast: Ich darf es leider nicht außer Haus geben.«
»Warum? Ist es geheim?«
»Nein, sonst würde ich es dir ja nicht zeigen. Es darf nur nicht dieses Gebäude verlassen.« Louis zögert. »Ich bezahle dich natürlich«, sage ich. »Den üblichen Satz, den du für so etwas verlangen würdest.«
»Tja, wenn ich dir wenigstens einmal in diesem Leben etwas Geld aus der Tasche ziehen kann, dann mache ich es natürlich«, sagt er lachend, setzt sich an den Besuchertisch, öffnet die Mappe, nimmt ein Blatt heraus und fängt an zu lesen, während ich mich wieder an meinen Schreibtisch setze. Akkurat, das ist das passende Wort für Louis: eine gepflegte Erscheinung, genauso alt wie ich, mit akkurat gestutztem Bart und akkuraten kleinen Händen, die schnell über die Seite huschen, während er seine akkurat geordneten Gedanken niederschreibt. Ich betrachte ihn liebevoll. Er arbeitet mit äußerster Konzentration, genau wie damals, als wir noch Klassenkameraden am Gymnasium in Straßburg waren. Er hat im Alter von elf Jahren seine Mutter verloren, ich im glei chen Alter meinen Vater. Das hat uns zusammengeschweißt, obwohl wir damals nie über dieses verbindende Element gesprochen haben und es auch heute nie tun.
Ich nehme meinen Stift und beginne einen Bericht zu schreiben. In wohltuender Stille arbeiten wir eine Stunde lang, bis jemand an die Tür klopft. Ich rufe: »Herein!«, worauf Henry mit einem Aktenordner mein Büro betritt. Sein Gesichtsausdruck bei Louis’ Anblick hätte nicht erstaunter sein können als der, wenn er mich nackt mit einem der Straßenmädchen von Rouen erwischt hätte.
»Major Henry, darf ich vorstellen, Maître Louis Leblois, ein guter Freund von mir«, sage ich. Der in seine Arbeit vertiefte Louis hebt nur beiläufig die linke Hand und schreibt dann weiter, während Henry von mir zu ihm und dann wieder zu mir schaut. »Maître Leblois schreibt für uns eine juristische Stellungnahme zu dieser absurden Brieftaubengeschichte.«
Für ein paar Sekunden bringt Henry vor Erregung kein Wort heraus. »Dürfte ich Sie bitte kurz allein sprechen, Herr Oberstleutnant?«, sagt er schließlich. Als wir draußen im Gang stehen, sagt er kühl: »Ich muss protestieren, Herr Oberstleutnant. Es gehört nicht zu unseren Gepflogenheiten, Leuten von außerhalb Zutritt zu unseren Räumen zu gewähren.«
»Guénée kommt dauernd.«
»Monsieur Guénée ist Beamter der Polizei!«
»Nun, Maître Leblois ist Beamter der Gerichtsbarkeit.« Mein Ton ist eher belustigt denn zornig. »Ich kenne ihn seit dreißig Jahren, ich verbürge mich für seine Integrität. Außer dem schaut er sich nur diese Brieftaubensache an. Das fällt ja wohl
Weitere Kostenlose Bücher