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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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unbedeutend, an eine ausländische Macht liefern zu lassen?«, erwidere ich steif.
    »Ganz und gar nicht! Wir sollten ihn auf jeden Fall im Auge behalten. Ich glaube nur, dass wir die Verhältnismäßig keit wahren sollten. Ich könnte Guénée beauftragen, ein biss chen herumzuschnüffeln, mal sehen, was er herausfindet.«
    »Nein, ich will nicht, dass Guénée mit dieser Sache betraut wird.« Guénée gehört auch zu Henrys Truppe. »Ich möchte zur Abwechslung mal jemand andres dafür.«
    »Wie Sie wünschen«, sagt Henry. »Sagen Sie mir, an wen Sie denken, dann setze ich ihn darauf an.«
    »Danke für das Angebot, aber ich werde selbst jemand darauf ansetzen.« Ich lächele Henry ins Gesicht. »Etwas praktische Erfahrung kann mir nicht schaden. Danke, Herr Major …« Ich deute auf die Tür. »Und noch einmal: Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Und sagen Sie doch bitte Gribelin Bescheid, dass ich ihn sprechen möchte.«
    •
    Das besonders Ärgerliche an Henrys kleiner frommer Predigt ist, dass er recht hat: Ich habe meiner Fantasie erlaubt, Esterházy zu einem Verräter von der Größenordnung eines Dreyfus’ aufzublasen, während alles, wie Henry sagt, darauf hinweist, dass er nichts besonders Schwerwiegendes getan hat. Trotzdem werde ich ihm nicht die Genugtuung verschaf fen, ihm die Kontrolle über die Operation zu überlassen. Ich werde sie selbst leiten. Also trage ich Gribelin auf, eine Liste mit allen Polizeiagenten zusammenzustellen, die die Abteilung in jüngster Zeit eingesetzt hat, inklusive Adressen und kurzen Werdegangs von jedem Einzelnen. Eine halbe Stunde nachdem er mein Büro verlassen hat, kommt er mit einem Dutzend Namen zurück.
    Gribelin ist mir ein Rätsel: der Inbegriff eines unterwürfigen Bürokraten, eine lebende Leiche. Er könnte vierzig, aber auch sechzig Jahre alt sein und ist so dünn wie ein Gespenst aus Rauch, ganz in Schwarz, der einzigen Farbe, die er trägt. Meist schließt er sich allein oben in seinem Archiv ein. In den seltenen Fällen, in denen er auftaucht, schleicht er dunkel und schweigend wie ein Schatten an der Wand entlang. Ich könnte mir vorstellen, dass er um die Kante einer geschlossenen Tür in einen Raum schlüpft – oder darunter hindurch. Das einzige Geräusch, das er manchmal macht, stammt von dem klimpernden Schlüsselbund in seiner Hosentasche, der mit einer Kette an der Hüfte befestigt ist. Jetzt steht er vollkommen regungslos und stumm vor meinem Schreibtisch, während ich mir seine Liste anschaue. Ich frage ihn, welchen der Agenten er empfehlen würde. Er lehnt es ab, sich festzulegen. »Es sind alles gute Männer.« Er fragt mich nicht, wofür ich einen Agenten brauche. Gribelin ist so diskret wie der Beichtvater des Papstes.
    Schließlich entscheide ich mich für einen jungen Beamten der Sûreté, Jean-Alfred Desvernine, der in der Inspektion am Gare Saint-Lazare Dienst tut. Er ist ein ehemaliger Dragonerleutnant aus dem Médoc, der die Karriereleiter nach oben geklettert ist, dann wegen Spielschulden den Dienst quittieren musste, sich seitdem aber ehrlich durchs Leben ge schlagen hat. Wenn es irgendjemand schaffen kann, die Geheimnisse um Esterházys Sucht zu entschlüsseln, dann er.
    Nachdem Gribelin sich wieder davongeschlichen hat, setze ich eine Nachricht für Desvernine auf, in der ich ihn bitte, mich übermorgen zu treffen. Anstatt ihn in mein Büro zu bestellen, wo Henry und Lauth ihn sehen könnten, schlage ich ein Treffen um neun Uhr morgens auf der Place du Carrousel vor dem Louvre vor. Ich schreibe, dass ich in Zivil kommen werde – in Gehrock mit Melone, mit einer roten Nelke im Knopfloch und dem Figaro unter dem Arm. Als ich den Umschlag versiegle, geht mir der Gedanke durch den Kopf, wie leicht man doch den Klischees der Spionage welt verfällt. Das beunruhigt mich. Schon jetzt traue ich nie mand mehr. Wie lange wird es noch dauern, bis ich wie Sandherr über moralisch Verwahrloste und Ausländer herziehe? Das ist eine déformation professionelle : Alle Meisterspione enden zwangsläufig im Wahnsinn.
    Am Mittwochmorgen stehe ich passend ausstaffiert vor dem Louvre. Aus der Touristenschlange löst sich plötzlich ein jugendlich aussehender Mann mit grau meliertem Schnauzbart. Er macht einen intelligenten Eindruck. Desvernine. Wir nicken uns zu. Er muss mich schon seit einigen Minuten beobachtet haben.
    »Man hat Sie nicht verfolgt, Herr Oberstleutnant«, sagt er leise. »Zumindest habe ich nichts bemerkt. Trotzdem schlage ich vor,

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