Intrige (German Edition)
auf den Champs-Élysées für den Spätnachmittag am Sonntag. Er schlingt sein Essen hinunter, als hätte er seit Tagen gehungert, danach machen wir einen Spaziergang im Jardin des Tuileries.
Germain Ducasse ist ein sensibler, kultivierter und liebenswürdiger Mann in den Dreißigern mit dunklem, lockigem Haar und sanften, braunen Augen, der als kundiger Begleiter für Opernbesuche bei älteren Junggesellen und auch bei verheirateten Damen beliebt ist, da er deren Ehemännern keinen Anlass für Eifersucht gibt. Ich kenne ihn seit über zehn Jahren, als er im 1 2 6 . Linienregiment in Pamiers im Département Ariège unter meinem Kommando seinen Militärdienst abschloss. Ich bestärkte ihn darin, an der Sorbonne moderne Sprachen zu studieren, und von Zeit zu Zeit nehme ich ihn zu den Soireen bei den de Comminges mit. Derzeit fristet er ein schäbig-elegantes Dasein als Übersetzer und Sekretär, und als ich andeute, dass ich ihm vielleicht etwas Arbeit zuschustern könne, ist mir seine Dankbarkeit fast peinlich.
»Das ist schrecklich nobel von Ihnen, Georges. Hier, schauen Sie sich das an!« Er hält sich an meinem Arm fest, hebt einen Fuß und zeigt mir das Loch in seinem Schuh. »Ist das nicht beschämend?« Seine Hand umklammert weiter meinen Arm.
»Ja, das ist wirklich ärgerlich.« Behutsam befreie ich mich aus seinem Griff. »Ich sage Ihnen gleich, dass die Arbeit unkonventionell und eintönig ist. Außerdem benötige ich Sie den ganzen Tag. Aber bevor ich Ihnen mehr darüber erzähle, brauche ich Ihr Wort, dass Sie mit niemand darüber sprechen.«
»Wie geheimnisvoll! Natürlich gebe ich Ihnen mein Wort. Worum geht’s?«
Ich führe ihn zu einer Bank abseits der Sonntagsspaziergänger, dann weihe ich ihn ein.
»Ich möchte, dass Sie gleich morgen früh diese Wohnung hier mieten.« Ich gebe ihm die Zeitungsanzeige. »Sie bieten dem Makler an, drei Monate im Voraus zu bezahlen. Wenn er Referenzen verlangt, geben Sie die de Comminges an. Ich werde das mit Aimery klären. Sie sagen, dass Sie sofort ein ziehen wollen, wenn möglich noch am selben Nachmittag. Am nächsten Tag wird Sie ein Mann besuchen, der sich als Robert Houdin vorstellt. Er arbeitet für mich, und er wird Ihnen Ihre Aufgabe erklären. Im Grunde geht es darum, dass tagsüber das gegenüberliegende Gebäude beobachtet werden soll. An den Abenden haben Sie frei.«
Ducasse schaut sich die Anzeige an. »Ich muss schon sagen, das hört sich ziemlich aufregend an. Werde ich jetzt ein Spion?«
»Hier sind die sechshundert Francs für die Anzahlung«, fahre ich fort und zähle ihm die Banknoten, die ich am Abend zuvor aus meinem Sonderfonds im Tresor genommen habe, in die Hand. »Und hier noch vierhundert für Sie, Ihre Bezahlung für die ersten beiden Wochen. Ja, Sie werden jetzt ein Spion, aber Sie dürfen das niemals irgendjemand gegenüber erwähnen. Ab jetzt darf man uns auch nicht mehr zusammen sehen. Und in Gottes Namen, mein lieber Germain, kaufen Sie sich ein paar anständige Schuhe, bevor Sie zu dem Makler gehen. Sie müssen wie jemand aussehen, der er es sich leisten kann, in der Rue de Lille zu wohnen.«
•
Ich lege einen neuen Fallordner an. Da unser Deckname für Esterházy nach seinem Spitznamen unter den Mädchen in Pigalle Wohltäter ist, schreibe ich Operation Wohltäter auf den Aktendeckel. Ducasse mietet ohne Probleme die Wohnung und zieht mit einigen wenigen persönlichen Dingen ein. Am folgenden Nachmittag besucht ihn Desvernine unter dem Namen Houdin und erklärt ihm seine Aufgabe. Ein Lieferwagen bringt versiegelte Packkisten mit optischen und fotografischen Geräten und den für eine Dunkelkammer benötigten Chemikalien. Die Männer in den Lederschürzen, die die Kisten in den ersten Stock tragen, gehören zur technischen Abteilung der Sûreté. Ein paar Tage später melde ich mich an, um die Wohnung selbst in Augenschein zu nehmen.
Es ist ein milder Spätnachmittag im April, die Bäume blühen, und im Garten des Ministers singen die Vögel. Es kommt mir vor, als machte sich die Natur über meinen Beruf lustig. Ich trage Zivil und habe den Hut tief ins Gesicht gezogen. Die deutsche Botschaft liegt kaum zweihundert Meter von meinem Büro entfernt – ich trete aus dem Haus, gehe nach links und dann gleich wieder nach rechts und befinde mich wenig später in der schmalen Rue de Lille. Das Hôtel Beauharnais, Nummer 72 , liegt auf der linken Straßenseite. Es ist durch eine hohe Mauer von der Straße abgetrennt, aber die
Weitere Kostenlose Bücher