Intrige (German Edition)
wenn er in eine von den Deutschen gemietete Wohnung einbricht, wird mir mulmig.
»Ist ganz einfach, Herr Oberstleutnant«, sagt er. »Zeigen Sie mir irgendetwas hier im Büro, das abgeschlossen ist.«
»Also gut.« Ich zeige auf die Schreibtischschublade oben rechts.
Desvernine kniet sich auf den Boden, inspiziert das Schloss und sucht zwei Werkzeuge aus. »Man braucht zwei dazu, sehen Sie? Sie führen den Spanner ein und drücken damit auf den Schlosskern, so … Dann führen Sie den Haken ein, tasten nach dem ersten Stift und heben ihn in die entriegelte Position …« Vor Konzentration ist sein Gesicht verzerrt. »Dann machen Sie das Gleiche mit den anderen Stiften … Und dann …« Er lächelt und öffnet die Schublade. »Ist sie offen.«
»Lassen Sie mir die Werkzeuge da«, sage ich. »Ich muss darüber nachdenken.«
Nachdem er gegangen ist, schließe ich die Werkzeuge im Schreibtisch ein. Ab und zu nehme ich sie heraus und schaue sie mir an. Nein, meine Entscheidung steht fest. Es ist zu riskant, zu kriminell.
Stattdessen schlage ich Desvernine ein, zwei Tage später einen anderen Plan vor, der zudem den Vorteil hat, dass er völlig legal ist.
»Was wir brauchen, ist Zugang zu den beiden Kaminen. Richtig?«
»Ja.«
»Und jetzt ist genau die Jahreszeit, wo die Kamine nicht mehr gebraucht werden und die Schornsteine gefegt werden, oder?«
»Ja.«
»Warum stecken wir also nicht zwei von Ihren Leuten in Schornsteinfegermonturen, und die melden sich dann bei den Deutschen, dass sie die Kamine kehren wollen?«
Mitte Mai betritt Desvernine mein Büro mit einem seltenen Lächeln auf den Lippen. Es stellt sich heraus, dass ein Freund seines Schwagers einen Schornsteinfeger kennt, einen Patrioten, der zufällig im selben Dragonerregiment gedient hat, in dem Desvernine damals Unteroffizier war. Dem Mann, dessen Vater 1 8 7 0 gefallen ist, war es ein Vergnügen, der Republik behilflich zu sein, ohne Fragen zu stellen. Zur Mittagszeit, sagt Desvernine, als die Deutschen gerade den Aperitif nahmen, bevor sie sich an den Esstisch setzten, habe er an die Tür ihrer Wohnung geklopft, gesagt, er sei der Schornsteinfeger, und sei ohne weitere Fragen hereingebeten worden. Buchstäblich unter den Augen der hochnäsigen Preußen ging er zwischen den beiden Wohnungen hin und her und setzte die Hörrohre ein, während die Deutschen glaubten, er würde die Kamine reinigen. Als er fertig war, ließ er ihnen noch seine Karte da, und einer der Deutschen gab ihm tatsächlich ein Trinkgeld.
»Und, wie viel kann man hören?«, frage ich.
»Jede Menge, besonders wenn derjenige, der spricht, vor dem Kamin sitzt oder steht. Nun ja, sagen wir so – man kann der Unterhaltung im Wesentlichen folgen.«
»Gute Arbeit. Gut gemacht.«
»Da gibt es noch etwas, Herr Oberstleutnant.«
Desvernine zieht einen Umschlag und eine Lupe aus seiner Jackentasche. In dem Umschlag steckt eine zehn mal dreizehn Zentimeter große Fotografie. Ich gehe damit zum Fenster und halte sie ins Licht.
»Gestern Nachmittag entwickelt«, sagt Desvernine. »Kurz nach drei.«
Ohne Vergrößerung ist der Mann, der durch die Tore der Botschaft auf die Straße tritt, kaum zu erkennen. Und selbst mit Lupe muss man genau hinschauen: Durch seine Vorwärtsbewegung ist das Foto leicht verschwommen, der Schatten hinter ihm, verursacht durch die strahlende Maisonne, ist schärfer. Trotzdem bleiben nach eingehender Betrachtung kaum Zweifel. Dieses Mal verraten die tief liegenden runden Augen und der extravagante Widderhornschnauzbart den Verräter: Es ist Esterházy.
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Am Freitag derselben Woche schnauft Bachir die knarzende Treppe herauf und bringt mir ein privates Telegramm ins Büro, adressiert an das Ministerium zu meinen Händen. Es hat ein bisschen gedauert, bis es zu mir gelangt ist. Noch bevor Bachir es mir aushändigt, beschleicht mich die Ahnung, dass es um meine Mutter geht, was nur Schlechtes bedeuten kann. Erwarten wir nicht alle in einem versteckten Winkel unseres Gehirns insgeheim den Tod unserer Eltern von dem Augenblick an, wo wir uns zum ersten Mal unserer Sterb lichkeit bewusst werden? Oder ist diese ständige Angst denen von uns vorbehalten, die schon in ihrer Kindheit den Verlust eines geliebten Menschen erlitten haben? Wie auch immer, das Telegramm ist von meiner Schwester Anna. Aus den wenigen Zeilen erfahre ich, dass unsere Mutter gestürzt ist und sich die Hüfte gebrochen hat. Sie sei konfus und hysterisch, schreibt Anna und bittet mich,
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