Intrige (German Edition)
sofort zu kommen.
Ich gehe durch den Gang und sage Henry Bescheid. Er drückt mir sein Mitgefühl aus. »Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen, Herr Oberstleutnant«, sagt er. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Arbeit. Ich werde in Ihrer Abwesenheit dafür sorgen, dass alles reibungslos weiterläuft.« Seine Herzlichkeit ist eindeutig echt, und ich empfinde einen Hauch von Zuneigung zu dem alten Grobian. Ich sage, dass ich ihn wissen lasse werde, wie lange ich wegbliebe. Er wünscht mir alles Gute.
Als ich im Krankenhaus von Versailles ankomme, ist die Operation schon vorüber. Anna und ihr Mann Jules Gay sitzen an Mamans Bett. Beide sind über zehn Jahre älter als ich: brave, tüchtige Familienmenschen mit zwei erwachsenen und zwei noch halbwüchsigen Kindern. Jules ist Lehrer an einem Pariser Gymnasium, ein kerngesunder, rotgesichtiger Lyoneser, streng katholisch und konservativ, der mir nach allen Regeln der Logik unsympathisch sein müsste, den ich aber auf wundersame Weise seit über einem Vierteljahrhundert immer gemocht habe. Als sie aufstehen, um mich zu begrüßen, kann ich schon an ihren Gesichtern ablesen, dass es nicht gut steht.
»Wie geht es ihr?«
Anna tritt einen Schritt zur Seite, damit der Blick zum Bett frei ist. Meine Mutter sieht eingefallen, winzig, grau aus. Ihr Gesicht ist von mir abgewendet. Die untere Hälfte des Körpers liegt in Gips, wodurch sie auf bizarre Weise größer und kräftiger wirkt, als sie eigentlich ist. Sie sieht wie ein kränkliches Küken aus, das nur zur Hälfte aus der Schale geschlüpft ist.
»Wann erwacht sie aus der Narkose?«
»Sie ist schon wach, Georges.«
»Was?« Erst verstehe ich nicht. Ich schiebe behutsam die Hand unter ihre Wange und drehe ihren Kopf zu mir. »Maman?« Ihre Augen sind tatsächlich geöffnet, aber sie sind wässerig und ohne Ausdruck. Sie blicken mich ohne ein Anzeichen von Erkennen an. Das sei nicht ungewöhnlich, erklärt der Arzt mir wenig später. Wenn man einem Patienten in ihrer Verfassung ein Narkotikum verabreiche, dann wache ein Teil des Geistes oft nicht wieder aus dem Schlaf auf. Als ich ihn anbrülle – »Warum haben Sie uns das nicht vorher gesagt?« –, legt mir Anna besänftigend die Hand auf den Arm. »Wir hatten doch keine Wahl«, sagt sie.
Am nächsten Tag bringen wir sie nach Hause. Am Sonntagmorgen rufen die läutenden Glocken von Saint-Louis zur Messe. Falls sie sie hört, dann weiß sie nicht mehr, was sie bedeuten. Sie scheint sogar vergessen zu haben, wie man isst.
Wir stellen eine Schwester an, die sich tagsüber um sie kümmert. Jeden Abend verlasse ich nun früh mein Büro, fahre nach Versailles und übernachte im Gästezimmer. Ich halte natürlich nicht allein Nachtwache. An den meisten Tagen kommen auch Anna und Jules aus Paris, mein Cousin Edmond Gast und seine Frau Jeanne fahren aus Ville-d’Avray herüber, und eines Abends, als ich später als sonst die Wohnung meiner Mutter betrete, treffe ich Pauline, die am Bett sitzt und ihrem apathischen Publikum aus einem Buch vorliest. Sie legt das Buch zur Seite, steht auf und umarmt mich. Ich halte sie fest in den Armen.
»Diesmal lasse ich dich nicht wieder los«, sage ich.
»Georges«, flüstert sie. »Deine Mutter …«
Wir schauen sie an. Sie liegt auf dem Rücken, die Augen sind geschlossen. Die Muskeln ihres Gesichts sind entspannt, die Züge gelassen, fast majestätisch in ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie ist jetzt jenseits jeder Konvention, denke ich, jenseits jeder dummen, engstirnigen Moral.
»Sie kann uns nicht sehen«, sage ich. »Und wenn, dann wäre sie hocherfreut. Sie hat nie verstanden, warum wir nicht geheiratet haben.«
»Da ist sie nicht allein …«
Sie sagt das ironisch. Sie hat mir nie einen Vorwurf gemacht. Wir sind zusammen im Elsass aufgewachsen. Wir haben zusammen die Belagerung überlebt. Wir haben uns aneinander festgehalten, als wir im Exil waren und alles andere nicht mehr existierte. Ich war ihr erster Liebhaber. Ich hätte um ihre Hand anhalten sollen, bevor ich mit meinem Regiment nach Algerien ging. Aber ich habe immer geglaubt, dafür wäre auch später noch jede Menge Zeit. Als dann mein Auslandseinsatz in Indochina beendet war und ich nach Hause zurückkehrte, hatte sie die Hoffnung aufgegeben, hatte eine Tochter geboren und war mit der zweiten schwanger. Mir machte das nicht einmal viel aus, zumal unsere Liebesaffäre schon bald wieder auflebte. »Wir haben etwas Besseres als eine gemeinsame Zukunft«, habe
Weitere Kostenlose Bücher