Intrige (German Edition)
ich oft zu ihr gesagt. »Wir haben die Vergangenheit.« Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich das noch glaube.
»Weißt du, eigentlich sind wir die ganze Zeit zusammen gewesen«, sage ich und nehme ihre Hand. »Seit mehr als zwanzig Jahren, auf die eine oder andere Weise. Das ist auch wie eine Ehe.«
»O Georges«, sagt sie müde. »Eines weiß ich sicher, mit einer Ehe hat das nichts zu tun.«
Die Wohnungstür öffnet sich, wir hören die Stimme meiner Schwester, und sofort zieht sie ihre Hand zurück.
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In diesem Zustand verharrt meine Mutter einen Monat lang. Es ist erstaunlich, wie lange ein Körper ohne Nahrung auskommen kann. Wenn ich auf dem Weg nach Versailles in dem überfüllten Zug durchgeschüttelt werde, muss ich gelegentlich daran denken, was Henry zu mir gesagt hat: Es gibt nicht viele Möglichkeiten, leicht aus dem Leben zu scheiden … Ihr Weg jedoch, so kommt es mir vor, ist eine sanfte und leichte Fahrt ins Tal des Vergessens.
Henry ist durchweg zuvorkommend. Eines Tages bittet er mich, ihn kurz nach unten in den Warteraum zu begleiten. Seine Frau möchte mich sehen und mir etwas geben. Nie zuvor habe ich einen Gedanken daran verschwendet, mit was für einer Frau Henry verheiratet sein könnte. Ich erwarte eine weibliche Version von ihm – korpulent, rotes Gesicht, laute, heisere Stimme. Stattdessen treffe ich eine große und schlanke junge Frau, die kaum halb so alt wie er ist, mit dichtem, dunklem Haar, gesundem Teint und lebhaften, brau nen Augen. Er stellt sie mir als Berthe vor. Wie Henry spricht sie mit dem Akzent der Menschen aus dem Département Marne. In einer Hand hält sie einen Blumenstrauß, den sie mir für meine Mutter mitgebracht hat, an der anderen einen Jungen, der vielleicht zwei oder drei Jahre alt ist und einen Matrosenanzug trägt. Ein Kind in diesem düsteren Gebäude ist ein merkwürdiger Anblick. Henry stellt mir seinen Sohn Joseph vor. Ich begrüße den Jungen, hebe ihn hoch und wirbele ihn unter den Augen seiner lächelnden Eltern eine Zeit lang im Kreis herum. (Wir Junggesellen haben ein Händchen für Kinder.) Dann setze ich ihn wieder ab und bedanke mich bei Madame Henry für die Blumen. Sie senkt kokett die Augen. Als ich wieder nach oben gehe, denke ich, dass Henry vielleicht doch mehr Facetten hat, als ich ange nommen habe. Ich verstehe Henrys Stolz auf seine hübsche junge Frau und warum er sie mir vorführen wollte. Aber bei Madame Henry wittere ich Ehrgeiz, und ich frage mich, wie sich das auf ihn auswirkt.
Am Nachmittag des 1 2 . Juni 1 8 9 6 , einem Freitag, empfängt meine Mutter die letzte Ölung. Es ist ein heißer Sommertag. Jenseits der zugezogenen Vorhänge lärmt die Straße und hämmert die glühende Sonne wie jemand, der Einlass fordert, rücksichtslos gegen die Fensterscheibe. Ich schaue dem Priester dabei zu, wie er unter lateinischen Zauberformeln ihre Ohren, Augen, Nasenöffnungen, Lippen, Hände und Füße salbt. Sein Händedruck beim Abschied ist widerwärtig feucht. Sie stirbt in derselben Nacht in meinen Armen, und als ich sie ein letztes Mal küsse, schmecke ich die Reste des Öls.
Wir hatten ihren Tod schon länger erwartet. Alle Vorbereitungen sind getroffen. Aber der Schock ist dennoch genauso groß, als wäre sie urplötzlich tot umgefallen. Nach der Totenmesse in der Kathedrale von Saint-Louis und der Beisetzung in einer Ecke des Friedhofs gehen wir zum Leichenschmaus zurück in ihre Wohnung. Es ist eine unangenehme Feierlichkeit. Das Wetter ist zu warm, in den winzigen Räumen drängen sich zu viele Leute, und es herrscht eine große Anspannung. Meine Schwägerin Hélène, die Witwe meines Bruders Paul, ist gekommen. Aus irgendeinem Grund hat sie mich nie gemocht. Wir geben uns größte Mühe, uns aus dem Weg zu gehen, was in der engen Wohnung keine leichte Aufgabe ist, sodass ich schließlich im alten Schlafzimmer meiner Mutter auf der abgezogenen Matratze lande und mich ausgerechnet von Paulines Mann in ein Gespräch verwickeln lasse.
Monnier ist ein hinreichend ehrbarer Mann, der seiner Frau und seinen Töchtern auf seine Art zugetan ist. Wenn er ein Unmensch wäre, würde es uns leichter fallen, ihn zu hintergehen. Aber er ist einfach nur stumpfsinnig. Was seine berufliche Tätigkeit im Außenministerium angeht, so scheint man ihm, soweit ich das beurteilen kann, die Rolle des älteren Bürokraten zugewiesen zu haben, der die schlauen Einfälle seiner jüngeren Kollegen bekrittelt. Was seine Fähigkeiten in
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