Intrige (German Edition)
Gesellschaft angeht, so hält er es mit der Masche des Langweilers: Erst fragt er irgendwen nach dessen Meinung zu einem bestimmten Thema, in diesem Fall mich zum bevorstehenden Besuch des russischen Zaren, und hört sie sich dann so lange mit kaum verhohlener Ungeduld an, bis er seinem Gegenüber endlich ins Wort fallen und seinen eigenen vorbereiteten Monolog abspulen kann. Wie sich herausstellt, hat man ihn der französisch-russischen Kommission zur Vorbereitung des Staatsbesuchs zugeteilt. Offenbar ist der offizielle Zug Seiner Kaiserlichen Hoheit mit einem Gewicht von vierhundertfünfzig Tonnen ganze zweihundert Tonnen zu schwer, als das er auf unseren Schienenwegen fahren könnte, weshalb er, Monnier, den Botschafter nachdrücklich auf das Problem hingewiesen habe …
Über seine Schulter hinweg kann ich sehen, dass Pauline sich mit Louis Leblois unterhält. Unsere Blicke treffen sich. Monnier, verärgert über meine mangelhafte Aufmerksamkeit, dreht sich kurz um und setzt dann seine Ansprache fort.
»Also, wie ich schon sagte, das ist weniger eine Frage des Protokolls als eine elementarer Umgangsformen …«
Ich versuche mich auf seine diplomatischen Plattitüden zu konzentrieren. Wenigstens das kann ich tun.
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In der Zwischenzeit ist die Operation Wohltäter weitergelaufen wie eine unbeaufsichtigte Maschine, die pausenlos – fast durchweg nutzlose – Informationen ausspuckt: Stapel an unscharfen Fotos und Besucherlisten für die Rue de Lille (unbekannter Mann, Mitte 5 0, hinkt leicht, Exsoldat?) und bruchstückhafte Abschriften von Gesprächen (»Ich habe ihn bei den Manövern in Karlsruhe gesehen. Er hat [unverständlich] angeboten, aber ich habe ihm gesagt, dass uns [unverständlich] schon unsere Quelle in Paris geliefert hätte«). Bis zum Juli habe ich Tausende Francs aus Sandherrs Geheimfonds ausgegeben, habe eine ernste diplomatische Krise riskiert und meinen Vorgesetzten einen potenziellen Verräter verschwiegen. Und dafür habe ich nichts von greifbarem Wert vorzuweisen außer dem einen Foto von Esterházy beim Verlassen der Botschaft.
Dann, völlig überraschend, ändert sich alles. Und damit auch mein Leben, meine Karriere und alles andere.
Es ist ein brütend heißer Sommerabend. Ausnahmsweise bin ich nicht in Paris, sondern begleite General Boisdeffre auf einer Art Betriebsausflug ins Burgund. Vorauskundschafter haben für uns ein Restaurant an einem Kanal in Venarey-les-Laumes ausfindig gemacht. Wir essen im Freien, Ochsenfrösche und Zikaden lärmen, der Duft der Zitronengraskerzen vertreibt die Mücken. Ich sitze ein Stück entfernt von Boisdeffre neben seinem Ordonnanzoffizier Major Gabriel Pauffin de Saint Morel. Motten schwirren durch die Lichtkegel der Laternen, über den hügeligen Weingütern im Osten stehen die ersten Sterne am Himmel. Was könnte angenehmer sein? Pauffin ist ein ausnehmend stattlicher, leicht beschränkter Aristokrat, der, ein paar Wochen hin oder her, genauso alt ist wie ich und den ich seit unserer gemeinsamen Kadettenzeit in Saint-Cyr kenne. Sein von Wein und Hitze gerötetes Profil glänzt im Kerzenlicht, und er legt sich gerade ein Stück weichen und streng riechenden Époisses de Bourgogne auf den Teller, als ihm aus heiterem Himmel etwas Dienstliches einfällt. »Ach, übrigens, Georges, tut mir leid, aber das habe ich glatt vergessen«, sagt er zu mir. »Der Chef möchte, dass Sie sich mit Oberst Foucault in Verbindung setzen, wenn wir wieder in Paris sind.«
»Ja, natürlich. Wissen Sie, worum es geht?« Foucault ist unser Militärattaché in Berlin.
Pauffin lässt nicht von seinem Käse ab und spricht weiter, ohne die Stimme zu senken oder mich auch nur anzuschauen. »Ich glaube, er hat in Berlin irgendeine Geschichte aufgeschnappt, dass die Deutschen noch einen Spion bei uns in der Armee haben. Er hat dem Chef einen Brief geschrieben.«
»Was?« Ich stelle mein Glas so heftig ab, dass etwas Wein auf den Tisch schwappt. »Mein Gott, wann genau war das?«
Jetzt dreht er mir doch den Kopf zu. »Vor ein paar Tagen. Tut mir leid, Georges. War mir ganz entfallen.«
Heute Abend kann ich nichts mehr tun, aber am nächsten Morgen beim Frühstück in dem Château, in dem wir übernachten, bitte ich Boisdeffre um die Erlaubnis, sofort nach Paris zurückkehren zu dürfen, um mit Oberst Foucault sprechen zu können.
Boisdeffre wischt sich mit dem Zipfel seiner Serviette etwas Ei vom Schnauzbart. »Warum die Eile? Glauben Sie, dass da etwas
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