Intrige (German Edition)
Boisdeffre von uns verlangt.«
»Ich glaube kaum, dass wir uns über Dreyfus noch den Kopf zerbrechen müssen.« Gonse liest wieder in dem Memorandum. Seine Entscheidungsschwäche ist legendär. Ich frage mich, wie lange ich hier noch sitzen muss, bevor er einen Entschluss fasst. Sein Ton wird sanfter. »Aber ist es das Risiko wirklich wert, mein lieber Picquart? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Es ist eine ziemliche Provokation, direkt vor der Haustür der Deutschen einen Beobachtungsposten zu installieren. Wenn sie das spitzkriegen, dann veranstalten sie einen Riesenzirkus.«
»Ganz im Gegenteil. Wenn sie es spitzkriegen, dann halten sie schön den Mund. Sie würden doch dastehen wie Idioten. Außerdem dürfte Schwartzkoppen eine panische Angst davor haben, dass wir ihn als Schwuchtel entlarven. Wussten Sie, dass in Deutschland darauf fünf Jahre Gefängnis stehen? Eine nette Retourkutsche dafür, dass er Dreyfus angeworben hat.«
»Großer Gott, das kann ich unmöglich gutheißen! Von Schwartzkoppen ist ein Mann von Welt. Das würde allen unseren Traditionen widersprechen!«
Ich habe seine Einwände vorausgesehen und bin entsprechend vorbereitet. »Erinnern Sie sich noch, was Sie mir gesagt haben, als Sie mir den Posten angeboten haben, Herr General? Sie haben gesagt, dass Spionage heutzutage die vor derste Kampflinie im Krieg gegen den Feind ist.« Ich beuge mich vor und klopfe auf den Bericht. »Hier haben wir eine Gelegenheit, die Kampflinie ins Herz des deutschen Territoriums zu tragen! In meinen Augen steht diese Art von kühner Unternehmung sehr wohl im Einklang mit der Tradition der französischen Armee.«
»Meine Güte, Picquart, Sie hassen die Deutschen wirklich, stimmt’s?«
»Ich hasse sie nicht. Sie halten nur mein Elternhaus besetzt.«
Gonse lehnt sich zurück und betrachtet mich durch den Rauch seiner Zigarette – es ist ein langer, taxierender Blick, als ginge er all seine vorherigen Überlegungen noch einmal durch. Ein paar Sekunden frage ich mich, ob ich nicht zu weit gegangen bin. »Ich erinnere mich an das Gespräch, als ich Ihnen den Posten angeboten habe, Herr Oberstleutnant«, sagt er dann. »Sehr gut sogar. Ihr Zögern hat mich beunruhigt. Ich hatte die Befürchtung, dass Sie vielleicht zu viele Skrupel für diese Art von Arbeit hätten. Anscheinend habe ich mich getäuscht.« Er stempelt das Memorandum ab, setzt seine Unterschrift darunter und gibt es mir zurück. »Ich werde Sie nicht aufhalten. Aber wenn die Sache schiefgeht, dann tragen Sie die Verantwortung.«
8
Wir beschließen, wenn wir schon im Wohnzimmer ein Hörrohr installieren, dann können wir das auch im Schlafzimmer machen, wo Schwartzkoppen und Panizzardi vermutlich am offensten miteinander sprechen. Desvernine muss die dafür nötige Ausrüstung in unsere Wohnung schmuggeln: die Hörrohre, eine Säge, Schneidwerkzeuge, Hammer und Meißel, Säcke für den Abfall. Das Herausbrechen der Steine aus dem Rauchfang ist nur möglich, wenn die Wohnung im Erdgeschoss leer ist, also in der Regel nachts. Ducasse macht sich auch Sorgen wegen des Ehepaars, das über uns wohnt und ihn schon argwöhnisch nach den Geräuschen gefragt hat, die sie immer hören, und was er denn da den ganzen Tag mache. Die Arbeit geht also nur quälend langsam voran: ein lauter Schlag mit dem Hammer, dann eine Pause, wieder ein Schlag, wieder eine Pause. Einen einzigen Ziegelstein aus der Wand zu brechen, kann eine ganze Nacht dauern. Ständig besteht die Gefahr, dass sich im Schacht Ruß löst und in den Kamin der Deutschen fällt. Es ist außerdem schmutzige Arbeit. Die Nerven liegen blank. Desvernine berichtet, dass Ducasse angefangen hat, schwer zu trinken: noch so ein Berufsrisiko in der Geheimdienstbranche.
Ein anderes Problem ist, wie wir uns Zutritt zur Wohnung der Deutschen verschaffen sollen. Desvernine schlägt vor, einfach einzubrechen. Er kommt mit einer kleinen Werkzeugrolle aus Leder in mein Büro, legt sie auf den Schreibtisch und öffnet sie. Sie enthält einen Satz Werkzeuge zum Knacken von Schlössern, den ein Meisterschlosser für die Sûreté angefertigt hat. Sie sehen aus wie das OP -Besteck eines Chirurgen. Er erklärt mir ihre Funktion: Dietriche mit zwei unterschiedlich geformten Spitzen für verschiedene Arten von Schlössern – Vorhänge-, Zylinder-, Bart- und Schei benschlösser; Haken, um fest sitzende Stifte zu lockern … Allein bei dem Anblick und dem Gedanken daran, dass einer unserer Agenten geschnappt wird,
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