Intrige (German Edition)
blätterte in einer Aktenmappe: Oberst du Paty de Clam, Blanches früherer Liebhaber. Als er bemerkte, dass ich in seine Richtung schaute, klappte er die Mappe zu, nahm das Monokel ab und stolzierte auf mich zu.
»Picquart«, sagte er und erwiderte meinen Gruß. »Was für eine entsetzliche Geschichte.«
»Ich wusste nicht, dass auch Sie darin eingebunden sind, Herr Oberst.«
»Eingebunden!« Du Paty lachte und schüttelte den Kopf. »Mein lieber Herr Major, man hat mich mit der Leitung für die gesamte Untersuchung beauftragt. Ich bin der Grund, dass Sie jetzt hier sind!«
Du Paty hatte mich schon immer irritiert. Es war, als spielte er die wesentliche Rolle in einem Spiel, für das sonst niemand das Drehbuch kannte. Er lachte plötzlich auf oder tippte sich an die Nase und gab den großen Geheimnisvollen oder verließ ohne Erklärung mitten in einer Unterhaltung den Raum. Er hielt sich für einen Ermittler von der modernen wissenschaftlichen Sorte und hatte eine Studie über Gra fologie, Anthropometrie, Kryptografie und Geheimtinten verfasst. Ich fragte mich, welche Rolle in seinem Drama er für mich vorgesehen hatte.
»Darf ich fragen, wie die Untersuchung vorankommt?«, sagte ich.
»Das werden Sie gleich erfahren.« Er klopfte auf die Aktenmappe und nickte zur Bürotür des Ministers, die in diesem Augenblick von einem seiner Stabsoffiziere geöffnet wurde.
Mercier saß an seinem Schreibtisch und zeichnete einen Stapel Unterlagen ab. »Bitte, meine Herren«, sagte er mit der für ihn typischen leisen Stimme, ohne den Blick zu heben. »Nehmen Sie Platz. Ich bin gleich bei Ihnen.«
Wir setzten uns entsprechend unserer Dienstgrade an den Konferenztisch und ließen den Platz am Kopfende für den Minister frei. Rechts neben Merciers Stuhl nahm Boisdeffre Platz, links davon Gonse, dann Sandherr und du Paty, die sich gegenübersaßen, und schließlich die drei jüngeren Offiziere.
»Henry«, sagte der stämmige Offizier und beugte sich über den Tisch, um mir die Hand zu geben.
»Picquart«, sagte ich.
Der Kommissar von der Sûreté stellte sich ebenfalls vor. »Armand Cochefort.«
Während der Minister seine Arbeit beendete, herrschte etwa eine Minute lang beklommene Stille. Dann gab er die Unterlagen seinem Ordonnanzoffizier. Der salutierte und verließ den Raum.
Mercier nahm seinen Platz ein und legte ein Blatt Papier vor sich auf den Tisch. »Also, ich habe den Staatspräsidenten und den Premierminister über den Stand der Dinge informiert. Das hier ist der Haftbefehl für Dreyfus, es fehlt nur noch meine Unterschrift. Haben wir schon das Ergebnis des Schriftsachverständigen? Wie ich höre, war der erste Experte, der von der Bank von Frankreich, der Meinung, dass es sich nicht um Dreyfus’ Handschrift handelt.«
Du Paty öffnete seine Mappe. »Ja, Herr Minister. Ich habe Alphonse Bertillon zurate gezogen, den Chef des Erkennungsdienstes der Polizeipräfektur. Er sagt, der Bordereau enthalte deutliche Elemente von Dreyfus’ Handschrift und die Unterschiede seien mit Absicht herbeigeführt worden. Wenn ich Ihnen die technischen Details ersparen und gleich seine Schlussfolgerung verlesen darf: ›Es erscheint uns eindeutig, dass sowohl die verschiedenen vorgelegten Schrift proben wie auch das belastende Schriftstück von ein und derselben Person verfasst wurden.‹«
»Dann sagt einer nein und der andere ja? Schöne Experten!« Mercier wandte sich an Sandherr. »Ist Dreyfus schon wieder in Paris?«
»Er isst gerade mit den Eltern seiner Frau zu Abend, den Hadamards«, sagte Sandherr. »Sein Schwiegervater ist Diamantenhändler – nun ja, Sie wissen ja, diese Leute sind auf bewegliche Güter spezialisiert. Das Gebäude steht unter Beobachtung.«
»Das ist ziemlich verlockend, Herr Oberst«, mischte sich General Boisdeffre ein. »Wenn wir wissen, wo er ist, warum ihn nicht gleich heute Abend verhaften?«
»Nein«, sagte Sandherr und schüttelte energisch den Kopf. »Bei allem Respekt, Herr General, auf keinen Fall. Sie kennen diese Leute nicht so, wie ich sie kenne. Sie wissen nicht, wie sie vorgehen. In dem Augenblick, in dem sie erfahren, dass wir Dreyfus verhaftet haben, wird das gehobene Judentum seinen gesamten Einfluss geltend machen und für seine Freilassung agitieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass er ohne den geringsten Wirbel einfach verschwindet und wir ihn für mindestens eine Woche ganz für uns haben. Ich glaube, Oberst du Patys Plan ist gut.«
Mercier wandte sein leeres,
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