Intrige (German Edition)
sich auf seinem Stuhl zurück.
Ich schaute in die Runde. Mercier und Boisdeffre zeigten keine Gemütsregung, Gonse zündete sich eine Zigarette an, Henry schaute besorgt zu Sandherr, der leicht zitternd die Armlehnen seines Stuhls umklammerte, Cochefort saß mit verschränkten Armen da und schaute auf den Boden.
»Irgendwelche Fragen?«, sagte Mercier.
Ich zögerte, dann hob ich zaghaft die Hand. Einer Gelegenheit, du Paty zu reizen, konnte ich noch nie widerstehen.
»Ja, Major … Picquart, richtig?«
»Ja. Danke, Herr Minister.« Ich wandte mich an du Paty. »Ich frage mich, was passiert, wenn Dreyfus nicht gesteht.«
Du Paty schaute mich kühl an. »Er wird gestehen. Er hat keine Wahl.«
»Aber wenn nicht …?«
Sandherr fiel mir ins Wort. Er schien vor Erregung beim Sprechen zu zittern. »Wenn er nicht gesteht, dann haben wir außer seiner Handschrift noch jede Menge anderer Beweise für seine Schuld.«
Ich beschloss, nicht weiter nachzubohren. Ich nickte. »Danke.«
Es folgte eine lange Pause.
»Sonst noch Fragen?«, sagte Mercier, der uns aus seinen Augenschlitzen einen nach dem anderen anschaute. »Nein? Chef? Nein? In diesem Fall, meine Herren, sind Sie bevollmächtigt, morgen früh um neun Uhr den von Oberst du Paty entworfenen Plan umzusetzen.«
Dann unterzeichnete er den Haftbefehl und warf ihn über den Tisch zu du Paty.
•
Der nächste Herbstmorgen war so makellos kristallklar, wie ich noch nie einen erlebt hatte – kühl mit einem wolkenlosen, Wärme verheißenden Himmel. Die ersten Sonnenstrahlen begannen schon die Nebelschwaden über der Seine zu vertreiben. Als ich kurz nach acht ins Ministerium kam, traf ich im Entree auf du Paty, der im Zustand höchster Erregung seine Truppen formierte, von denen drei in Zivil waren – Cochefort, sein Assistent und ein leichenblasser Beamter, der mir zwar nicht vorgestellt wurde, den ich aber für Gribelin hielt. Henry und ich trugen Uniform. Henry sah verwirrt aus. Als du Paty uns zum zweiten oder dritten Mal erklärte, was wir zu tun hätten, begegneten sich unsere Blicke. Er zwinkerte mir zu.
»Also, Picquart, Sie klopfen Punkt neun mit Dreyfus an die Bürotür des Stabschefs«, sagte du Paty abschließend zu mir. »Nicht eine Minute früher oder später, ist das klar? Das muss ablaufen wie am Schnürchen!«
Du Paty und die anderen verschwanden nach oben, und ich setzte mich auf eine der grünen Lederbänke und wartete. Der Innenhof, der hinaus auf die Rue Saint-Dominique führte, lag in meinem Blickfeld. Ich tat so, als läse ich Zeitung. Die Minuten schleppten sich dahin. Mir kam es vor, als zöge die gesamte Armee an mir vorbei – tatterige alte Generäle mit weißen Schnauzbärten, stattliche Dragoner-Obersten, deren Gesicht nach dem morgendlichen Ausritt im Bois de Boulogne noch rot vor Kälte war, eifrige junge Hauptleute mit Aktenstapeln für ihre Herren. Und dann, inmitten dieser Parade, tauchte plötzlich Dreyfus auf. Er machte einen deplatzierten, unschlüssigen, grüblerischen Ein druck und sah ohne seine Uniform, in makellosem, schwarzem Gehrock, gestreifter Hose und Melone, schon jetzt wie ein Ausgestoßener aus. Er hätte ein Börsenmakler sein können. Ich schaute auf meine Uhr und fluchte leise. Er war fünfzehn Minuten zu früh.
Ich faltete die Zeitung zusammen und stand auf, als er hereinkam. Offensichtlich war er überrascht, mich hier zu sehen. Er berührte zum Salut den Rand der Melone.
»Major Picquart, guten Morgen«, sagte er und schaute sich im überfüllten Entree um. »Ich befürchte, dass sich ein paar von den Jungs einen Spaß mit mir machen. Am Samstag habe ich ein Telegramm bekommen, angeblich von General Boisdeffres Büro, dass ich mich hier in Zivilkleidung zu einer dienstlichen Besprechung einfinden soll. Anscheinend bin ich der Einzige.«
»Hm, komisch«, sagte ich. »Darf ich mal sehen?«
Dreyfus nahm das Telegramm aus seiner Brieftasche und gab es mir. Dienstliche Anordnung. Der Divisionsgeneral, Chef des Generalstabs der Armee, wird am Montag, 1 5. Ok tober, eine Inspektion der im Stab diensttuenden Offiziere durchführen. Hauptmann Dreyfus, derzeit stationiert beim 39. Infanterieregiment in Paris, wird aufgefordert, an diesem Tag um 9 Uhr im Büro des Chefs des Generalstabs der Armee zu erscheinen. Zivilkleidung …
Ich tat so, als läse ich das Telegramm genau durch. Ich spielte auf Zeit. »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Kommen Sie mit in mein Büro, wir gehen der Sache auf den
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