Intrige (German Edition)
der Prozess in die Hose geht. Schauen Sie sich doch die Zeitungen an. Der Fall wird vertuscht, weil der Offizier Jude ist, heißt es da. Also, ich will Folgendes von Ihnen.« Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und sprach sehr leise und bestimmt weiter. »Ich will, Major Picquart, dass Sie in meinem Auftrag an jedem Tag im Gerichtssaal sitzen und mir jeden Abend Bericht erstatten. Und ich will mehr als das Übliche: Er hat dies gesagt, er hat das gesagt – das liefert mir jeder Sekretär, der Stenografie kann. Ich will die Essenz, den Kern der Sache.« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Beschreiben Sie es wie ein Schriftsteller. Erzählen Sie mir, wie sich die Anklagevertreter anhören. Schauen Sie sich die Richter an, studieren Sie die Zeugen. Ich kann nicht selbst in den Gerichtssaal. Es würde gleich heißen, da läuft ein politischer Prozess ab. Sie sind meine Augen und Ohren. Können Sie das für mich tun?«
»Ja, Herr General«, sagte ich. »Es wäre mir eine Ehre.«
Ich schaffte es, Merciers Büro mit angemessen ernstem Gesichtsausdruck zu verlassen. Doch als ich den Treppen absatz erreichte, tippte ich mit einem Finger an die Uniform mütze und grüßte Napoleons Gemälde. Ein persönlicher Auftrag vom Kriegsminister! Aber nicht nur das – ich sollte seine Augen und Ohren sein! Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen ging ich die Marmorstufen hinunter.
Dreyfus’ erster Verhandlungstag vor dem Kriegsgericht war für Mittwoch, den 1 9 . Dezember angesetzt. Der Prozess fand im alten Militärgericht statt, einem düsteren alten Gebäude direkt gegenüber dem Gefängnis Cherche-Midi, und sollte drei oder vier Tage dauern. Ich hoffte sehr, dass er bis Samstagabend beendet sein würde, da ich Karten für die Salle d’Harcourt hatte, wo Monsieur Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune zum ersten Mal öffentlich aufgeführt werden sollte.
Ich machte mich schon früh auf den Weg zum Gerichtsgebäude. Trotzdem hatte ich einige Mühe, mich durch den überfüllten Vorraum zu drängeln. Major Henry war die erste mir bekannte Person, die ich traf. Als er mich sah, zuckte sein Kopf überrascht in die Höhe.
»Major Picquart! Was machen Sie hier?«
»Der Minister hat mich gebeten, als sein Beobachter an der Verhandlung teilzunehmen.«
»Um Gottes willen, tatsächlich?« Henry zog eine Schnute. »Na, wem da nicht gleich vor Stolz die Brust schwillt, was? Sie sind also sein Spitzel. Dann müssen wir demnächst ja mäch tig aufpassen, wenn Sie in der Nähe sind!« Es sollte sich anhö ren, als würde er einen Scherz machen, aber ich merkte, dass er beleidigt war. Von diesem Augenblick an begegnete er mir stets mit Argwohn. Ich wünschte ihm viel Glück und ging die Steintreppe zum Gerichtssaal im ersten Stock hinauf.
Das Gebäude war ein ehemaliges Nonnenkloster mit nied rigen, wuchtigen Bogentüren und grob verputzten, weiß getünchten Wänden, in die kleine Nischen für Ikonen eingelassen waren. Der für die Anhörung vorgesehene Raum war kaum größer als ein Klassenzimmer. Er war schon überfüllt – mit Journalisten, Gendarmen, Soldaten und jenen eigentümlichen Mitgliedern der Öffentlichkeit, die zum Zeitvertreib Gerichtsverhandlungen besuchten. Ganz hinten auf einem Podest, das unter einem Gemälde der Kreuzigung Christi aufgebaut worden war, stand ein langer, mit grünem Fries bezogener Tisch für die Richter. Vor die Fenster hatte man Teppiche an die Wände genagelt – ob zum Schutz vor der Dezemberkälte oder vor neugierigen Blicken, konnte ich nie herausfinden. Jedenfalls schufen sie eine klaustrophobische und seltsam bedrohliche Atmosphäre. Vor dem Richtertisch stand ein einfacher Holzstuhl für den Angeklagten, dahinter standen nebeneinander zwei kleine Schreibtische für den Verteidiger und den Anklagevertreter. Ein Stuhl schräg hinter den Richtern war für mich reserviert. Für die Prozessbesucher gab es keine Stühle, sie mussten sich mit Stehplätzen entlang den Wänden begnügen. Ich zog Notizbuch und Stift aus der Tasche, setzte mich und wartete. Plötzlich drängte sich du Paty mit General Gonse im Schlepptau in den Raum. Sie nahmen den Ort der Handlung in Augenschein und gingen dann wieder.
Kurze Zeit später erschienen die Hauptakteure. Maître Edgar Demange, Dreyfus’ Anwalt, machte mit seiner schwar zen Robe und der zylinderförmigen, schwarzen Haube zwar einen exotischen Eindruck, war aber sonst der Inbegriff eines stumpfsinnigen Bauern in den
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