Intrige (German Edition)
ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er schaute grimmig. Es dauerte kaum zwei Minuten, dann hatten die Gendarmen die Presseleute und die Zuschauer aus dem Raum geführt. Nachdem der Gerichtsdiener die Tür geschlossen hatte, herrschte sofort eine völlig andere, eine gedämpfte Atmosphäre. Wir schienen von der Welt jenseits der verhängten Fenster abgeschnitten zu sein. Nur dreizehn Personen waren noch im Raum: Dreyfus, sein Verteidiger, der Anklagevertreter, die sieben Richter, der Gerichtsdiener Vallecalle, ein Polizeibeamter und ich.
»Gut«, sagte Maurel. »Beginnen wir mit der Beweisaufnahme. Angeklagter, stehen Sie bitte auf. Monsieur Vallecalle, verlesen Sie die Anklageschrift …«
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An den nächsten drei Nachmittagen eilte ich nach Ende jeder Sitzung die Treppe hinunter, ignorierte die Fragen der Journalisten und trat hinaus in die winterliche Abenddämmerung, um mit schnellen Schritten auf den vereisten Trottoirs die exakt siebenhundertzwanzig Meter – ich habe jedes Mal die Schritte gezählt – von der Rue du Cherche-Midi bis zum Hôtel de Brienne zurückzulegen.
»Major Picquart für den Kriegsminister …«
Meine Berichte an den Minister folgten immer dem gleichen Muster. Mercier hörte aufmerksam zu. Er stellte ein paar knappe, sachbezogene Fragen. Danach schickte er mich zu Boisdeffre, dem ich alles noch einmal erzählte. Boisdeffre, der gerade erst vom Begräbnis von Zar Alexander III . aus Moskau zurückgekehrt war und dessen erlauchter Kopf sicherlich noch vollauf mit russischer Politik beschäftigt war, ließ mich höflicherweise und meistens kommentarlos bis zu Ende erzählen. Von Boisdeffre brachte mich eine Kutsche des Kriegsministeriums zum Élysée-Palast. Dort unterrich tete ich den Präsidenten der Republik persönlich, den schwer mütigen Jean Casimir-Perier – eine unangenehme Aufgabe, da der Präsident seinen Kriegsminister schon lange im Verdacht hatte, hinter seinem Rücken zu intrigieren. Tatsächlich war Casimir-Perier zu jener Zeit selbst eine Art Gefangener – abgeschnitten in seinen vergoldeten Wohnungen, übergangen von seinen Ministern, beschränkt auf eine rein zeremonielle Rolle. Seine Verachtung für die Armee machte er dadurch deutlich, dass er mir kein einziges Mal eine Sitzgelegenheit anbot. Meinen Bericht begleitete er mit sarkastischen Bemerkungen und ungläubigem Schnauben. »Mein Gott, das Libretto einer komischen Oper!«
Insgeheim teilte ich seine Bedenken, und sie verstärkten sich im Laufe der Woche. Die Zeugen am ersten Tag waren die sechs Schlüsselfiguren bei der Erstellung der Anklage gegen Dreyfus: Gonse, Fabre und d’Aboville, Henry, Gribelin und du Paty. Gonse erläuterte, wie leicht Dreyfus sich Zugang zu den geheimen Dokumenten habe verschaffen können, die zusammen mit dem Bordereau übergeben worden seien. Fabre und d’Aboville schilderten sein verdächtiges Be neh men während seiner Dienstzeit in der Vierten Abteilung. Henry bezeugte die Echtheit des Bordereaus als ein aus der deutschen Botschaft stammendes Beweismittel. Gribelin, der sich auf von Guénée zusammengestellte Polizeiberichte stützte, zeichnete Dreyfus als Frauenhelden und Spieler, was ich offen gestanden für unglaubwürdig hielt. Aber auch du Paty beharrte darauf, Dreyfus sei trotz seines ziemlich korrekten Äußeren eine von animalischen Trieben gesteuerte Kanaille – Abschaum (Dreyfus schüttelte an dieser Stelle nur den Kopf). Du Paty beschuldigte den Angeklagten zudem, dass er während des Diktats bewusst seine Schrift verstellt habe – ein Vorwurf, der allerdings schwer ins Wanken geriet. Als Demange ihm nämlich Proben von Dreyfus’ Handschrift zeigte und ihn bat, auf die Stellen zu zeigen, wo diese Übergänge zu sehen seien, war du Paty nicht dazu in der Lage. Alles in allem keine eindrucksvolle Vorstellung.
Als Mercier mich nach meinem ersten Bericht fragte, wie ich die Chancen der Klage beurteilte, druckste ich herum. »Also los, Herr Major«, sagte er sanft. »Ihre aufrichtige Mei nung, bitte. Deshalb habe ich Sie da reingeschickt.«
»Nun ja, Herr Minister, meiner aufrichtigen Meinung nach sind das alles nur Indizien. Wir haben jenseits aller Zweifel dargelegt, dass Dreyfus der Verräter sein könnte . Aber wir haben nicht zweifelsfrei bewiesen, dass er es auch war .«
Mercier knurrte, gab aber keinen weiteren Kommentar ab. Als ich jedoch am nächsten Morgen zum zweiten Tag der Beweisaufnahme im Gerichtsgebäude erschien, wartete dort Henry schon auf
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