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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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mich.
    »Wie ich höre, haben Sie dem Minister erzählt, dass unser Fall auf wackeligen Beinen steht«, sagte er in vorwurfsvollem Ton.
    »Und, ist dem nicht so?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Jetzt seien Sie nicht gleich beleidigt, Major Henry. Auch eine?« Ich bot ihm eine Zigarette an, die er widerwillig annahm, zündete ein Streichholz an und hielt es ihm zuerst hin. »Ich habe nicht gesagt, auf wackeligen Beinen, sondern nur, dass er nicht konkret genug ist.«
    »Mein Gott«, sagte Henry und blies zusammen mit einem frustrierten Seufzer eine dünne Rauchsäule in die Luft. »Sie haben leicht reden. Wenn Sie wüssten, was wir an konkreten Beweisen gegen dieses Schwein in der Hand haben. Wir haben sogar den Brief eines ausländischen Geheimdienstoffiziers, in dem er ihn als den Verräter identifiziert – nicht zu glauben, was?«
    »Dann benutzen Sie ihn.«
    »Wie denn? Damit würden wir unsere geheimsten Quellen preisgeben. Das würde mehr Schaden anrichten, als Dreyfus ohnehin schon angerichtet hat.«
    »Selbst bei einer Verhandlung hinter verschlossenen Türen?«
    »Seien Sie nicht so blauäugig, Picquart! Eines Tages wird jedes in diesem Raum gesprochene Wort durchsickern.«
    »Nun, dann weiß ich auch nicht, was ich Ihnen raten soll.«
    Henry zog heftig an seiner Zigarette. Er schaute sich um, ob wir auch nicht belauscht wurden, ehe er sich wieder an mich wandte. »Was würden Sie sagen, wenn ich gleich in den Gerichtssaal ginge und einfach ein bisschen was von dem erzähle, was wir an Beweisen in den Akten haben?«
    »Aber Sie haben Ihre Aussage schon gemacht.«
    »Ich könnte doch noch einmal aufgerufen werden.«
    »Unter welchem Vorwand?«
    »Könnten Sie Oberst Maurel nicht einen kleinen Hinweis geben?«
    »Welchen Grund könnte ich ihm nennen?«
    »Ich weiß nicht. Wir finden schon etwas.«
    »Mein lieber Henry, ich bin hier, um den Prozess zu beobachten, nicht um mich einzumischen.«
    »Na schön«, sagte Henry bitter. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, ließ sie dann auf den Fliesenboden fallen und trat sie mit der Stiefelspitze aus. »Dann mache ich es selbst.«
    Der Morgen des zweiten Tages gehörte einer Parade von Offizieren aus dem Generalstab. Sie standen Schlange, um ihren früheren Kameraden vor dessen Augen zu verleumden. Sie schilderten einen Mann, der auf ihren Schreibtischen her umschnüffelte, der privaten Kontakt verweigerte, der sich immer benahm, als wäre er ihnen geistig überlegen. Einer behauptete, Dreyfus habe ihm erzählt, dass es ihm egal sei, ob das Elsass unter deutscher Besatzung stehe, er sei Jude, Juden hätten kein eigenes Land, wechselnde Landesgrenzen seien ihnen gleichgültig. Während all dieser Aussagen verriet Dreyfus’ Gesicht keinerlei Regung. Man hätte glauben können, er sei stocktaub oder hörte absichtlich nicht zu. Aber hin und wieder hob er die Hand, weil er etwas sagen wollte. Gelassen korrigierte er dann mit seiner ausdruckslosen Stimme eine Behauptung: dieser Teil der Aussage sei falsch, weil er damals gar nicht in der Abteilung gearbeitet habe; jene Darstellung sei nicht korrekt, weil er dem genannten Herrn nie begegnet sei. Er schien keinerlei Zorn zu verspüren. Er war ein Roboter. Einige Offiziere brachten das eine oder andere zu seiner Verteidigung vor. Mein alter Freund Mercier-Milon beschrieb ihn als einen loyalen und gewissenhaften Soldaten. Hauptmann Tocanne, der mit Drey fus meine Topografie-Vorlesungen besucht hatte, sagte, er sei eines Verbrechens nicht fähig.
    Und dann verkündete zu Beginn der Nachmittagssitzung einer der Richter, Major Gallet, er habe das Gericht auf einen wichtigen Sachverhalt hinzuweisen. Nach seinen Erkenntnissen, sagte er ernst, habe es schon vor Beginn der Ermittlungen im Oktober gegen Dreyfus Untersuchungen wegen eines mutmaßlichen Landesverräters im Generalstab gegeben. Falls dem so sei, bedauere er, dass diese Tatsache dem Gericht vorenthalten worden sei. Er schlug vor, die Angelegenheit sofort zu klären. Oberst Maurel war einverstanden und beauftragte den Gerichtsdiener, Major Henry erneut in den Zeugenstand zu rufen. Ein paar Minuten später erschien der scheinbar verlegene Henry. Als hätte man ihn gerade aus einer Bar gezerrt, knöpfte er sich noch beim Betreten des Raums den Uniformrock zu. Ich notierte mir die Zeit: 2 Uhr 3 5.
    Demange hätte Einspruch gegen einen zweiten Aufruf von Henry erheben können. Aber Henry, der barhäuptig vor den Richtern stand und nervös an seiner Uniformmütze

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