Intrige (German Edition)
Fünfzigern mit breitem, glatt rasiertem Gesicht und zerzausten, strähnigen Koteletten. Der Anklagevertreter hieß Brisset, war dünn wie ein Strich und trug die Uniform eines Majors. Und schließlich die sieben Militärrichter, ebenfalls in Uniform: ein Oberst, drei Majore und zwei Hauptleute sowie der Vorsitzende des Gerichts, Oberst Émilien Maurel, eine runzelige und kränklich aussehende ältere Gestalt. Später erfuhr ich, dass er unter Hämorrhoiden litt. Er nahm den Platz in der Mitte des langen Tischs ein. »Bringen Sie den Angeklagten herein!«, sagte er mit gereizter Stimme.
Alle Blicke wanderten zum anderen Ende des Raums, die Tür öffnete sich, und er kam herein. Durch den langen Be wegungsmangel ging er leicht gebückt. Vor Erschöpfung und wegen der Dunkel heit in seiner Zelle war die Haut grau geworden. Die schlechte Verpflegung hatte ihn abmagern lassen. In zehn Wochen war er um zehn Jahre gealtert. Dennoch reckte er, als er in Beglei tung eines Leutnants der Republikanischen Garde durch den Raum ging, trotzig den Kopf in die Höhe. Ich bemerkte sogar einen Anflug von hoffnungsvoller Erwartung in seinem Gang. Vielleicht war Merciers Sorge berechtigt. Ganz Grandseig neur, notierte ich. Ungeduldig, kann es gar nicht erwarten. Vor Oberst Maurel blieb er stehen und salutierte.
Maurel räusperte sich und sagte: »Ihr Name?«
»Alfred Dreyfus.«
»Geburtsort?«
»Mülhausen.«
»Alter?«
»Fünfunddreißig.«
»Sie dürfen sich setzen.«
Dreyfus ließ sich auf seinem Platz nieder. Er nahm seine Mütze ab und legte sie unter den Stuhl. Dann rückte er seinen Kneifer zurecht und sah sich um. Ich saß genau in seinem Blickfeld. Fast sofort schaute er mir ins Gesicht. Ich erwiderte den Blick bestimmt eine halbe Minute lang. Was da in seinem Gesichtsausdruck lag? Ich konnte es nicht sagen. Aber wenn ich jetzt den Blick abwandte, das spürte ich, dann wäre das ein Eingeständnis, dass ich ihm übel mitgespielt hatte. Also hielt ich seinem Blick stand.
Schließlich war es der Vertreter der Anklage, Brisset, der unseren Wettkampf beendete. Gleichzeitig wandten wir den Blick wieder ab, als er aufstand und das Wort ergriff. »Herr Vorsitzender, in Anbetracht der sensiblen Natur des Falles stellen wir den Antrag, die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen.«
Sofort stand auch Demange auf. »Herr Vorsitzender, wir erheben entschieden Einspruch. Mein Mandant hat das Recht auf die gleiche Behandlung wie jeder andere Angeklagte.«
»Herr Vorsitzender, unter normalen Umständen hätte nie mand etwas dagegen einzuwenden. Aber die Beweisführung gegen Hauptmann Dreyfus beinhaltet zwangsläufig wichtige Belange der nationalen Sicherheit.«
»Bei allem gebotenen Respekt, der einzige tatsächliche Beweis gegen meinen Mandanten besteht aus einem einzigen Blatt Papier mit einem handschriftlichen Text von strittiger Herkunft …«
Im Raum war überraschtes Gemurmel zu hören. Maurel brachte es mit seinem Richterhammer zum Verstummen. »Maître Demange! Ich bitte Sie! Sie sind ein zu erfahrener Anwalt, als dass dieses Manöver entschuldbar wäre. Das Gericht vertagt sich, bis es eine Entscheidung getroffen hat. Bringen Sie den Angeklagten zurück in seine Zelle.«
Dreyfus wurde wieder abgeführt. Danach verließen die Richter den Raum. Demange schien mit seiner ersten Konfrontation zufrieden zu sein. Wie ich Mercier später warnte, hatte Demange, egal wie das Gericht entschied, der Öffentlichkeit auf geschickte Weise mitgeteilt, dass die Anklage auf wackeligen Beinen stand.
Fünfzehn Minuten später kehrten die Richter zurück. Maurel ordnete an, Dreyfus aus seiner Zelle zu holen. Er wurde wieder zu seinem Platz geführt. Nach wie vor machte er einen gelassenen Eindruck. »Wir haben die Frage eingehend erörtert«, sagte Maurel. »Der vorliegende, höchst ungewöhnliche Fall berührt gewichtigste und sensibelste Belange der nationalen Sicherheit, die keine Vorsichtsmaßnahme zu streng erscheinen lassen. Deshalb entscheidet das Gericht, dass alle Zuschauer sofort auszuschließen sind und die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortgesetzt wird.« Der Unmut und die Enttäuschung der Zuschauer äußerten sich in lautem Stöhnen. Demange wollte Einspruch erheben, wurde aber von Maurels Richterhammer sofort in die Schranken gewiesen. »Nein, Maître Demange! Meine Entscheidung steht fest. Ich werde nicht mit Ihnen diskutieren. Gerichtsdiener, räumen Sie den Saal!«
Demange
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