Intrige (German Edition)
halten Sie davon?«
»Wissen Sie, ich gebe nie Stegreifurteile ab.«
»Vielleicht machen Sie in diesem Fall eine Ausnahme.«
So wie er mich anschaut, befürchte ich schon, dass er ablehnt. Aber dann ist seine Neugier stärker. Er geht zum Fenster und hält die Briefe gegen das Licht, einen in jeder Hand, und schaut sie sich genau an. Er runzelt die Stirn und wirft mir einen verwirrten Blick zu. Dann wendet er seine Auf merksamkeit wieder den Fotos zu. »Hm«, sagt er, und dann noch einmal: »Hm, hm …!«
Er geht quer durch den Raum zu einem Aktenschrank, öffnet eine Schublade und nimmt eine dicke grüne Mappe heraus, die von einer schwarzen Schnur zusammengehalten wird. Er geht damit zu seinem Labortisch, löst die Schnur und zieht eine Fotografie des Bordereaus sowie verschiedene Blätter und Schaubilder heraus. Er legt den Bordereau und die Briefe nebeneinander auf den Tisch. Dann nimmt er drei identische Blätter aus durchsichtigem kariertem Papier und legt sie auf jedes der drei Schriftstücke. Er schaltet eine Lampe an, zieht das Vergrößerungsglas darüber und begutachtet sie. »Aha«, brummt er zu sich selbst. »Aha, ja, ja, aha …« Er macht sich ein paar Notizen. »Aha, aha, ja, ja, aha …«
Ich beobachte ihn einige Minuten. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten. »Nun? Ist das die gleiche Schrift?«
»Sie sind identisch, ja.« Er schüttelt verwundert den Kopf und dreht sich zu mir um. »Vollkommen identisch!«
Ich kann kaum glauben, dass er sich so schnell so sicher ist. Der wesentliche Beweis im Fall gegen Dreyfus hat sich gerade aufgelöst: weggefegt von ebendem Sachverständigen, der ihn überhaupt erst auf den Tisch gelegt hat! »Wären Sie bereit, eine entsprechende eidesstattliche Erklärung zu unterzeichnen?«
»Selbstverständlich!«
Selbstverständlich? Die Verbrecherfotos an der Wand verschwimmen vor meinen Augen. »Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass diese Briefe gar nicht von Dreyfus geschrieben wurden, sondern hier in Frankreich, just in diesem Sommer?«
Bertillon zuckt ziemlich gleichgültig mit den Achseln. »Dann würde ich sagen, dass die Juden offensichtlich jemand andres darin ausgebildet haben, Dreyfus’ Handschrift nachzumachen.«
•
Von der Île de la Cité gehe ich zurück aufs linke Seineufer. Ich versuche im Kriegsministerium Armand du Paty ausfindig zu machen. Mir wird gesagt, er werde heute nicht mehr erwartet, möglicherweise könne ich ihn zu Hause antreffen. Ein junger Offizier gibt mir seine Adresse: 1 7, Avenue Bosquet.
Und wieder mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Irgendwann scheine ich mich vom Armeeoffizier in einen Kriminalbeamten verwandelt zu haben. Ich hechle von Ort zu Ort. Ich verhöre Zeugen. Ich sammle Beweise. Wenn das alles vorbei ist, sollte ich mich vielleicht bei der Sûreté bewerben.
Die Avenue Bosquet ist eine freundliche und wohlhabende Straße nahe der Seine, sonnenbesprenkelt unter ihrem Blätterdach. Du Patys Wohnung befindet sich im zweiten Stock. Ich klopfe mehrere Male, ohne dass sich etwas rührt, und will schon wieder gehen, als mir unter der Tür ein Schatten auffällt, der sich leicht hin und her bewegt. Ich klopfe noch einmal. »Oberst du Paty?«, rufe ich. »Ich bin’s, Georges Picquart.«
Stille, dann erklingt eine gedämpfte herrische Stimme. »Einen Augenblick, wenn ich bitten darf!« Riegel werden zurückgezogen, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, dann öffnet sich die Tür einen Spalt weit. Ein verzerrtes Auge blinzelt mich durch ein Monokel an. »Picquart? Sind Sie allein?«
»Ja, natürlich. Warum sollte ich nicht allein sein?«
»Stimmt.« Die Tür geht ganz auf, und vor mir steht du Paty in einem langen, roten Morgenmantel aus Seide, der mit chinesischen Drachen bestickt ist. Die Füße stecken in blassblauen marokkanischen Hausschuhen. Auf dem Kopf trägt er einen purpurfarbenen türkischen Fes. Er ist unrasiert. »Ich habe an meinem Roman gearbeitet«, sagt er. »Kommen Sie rein.«
Die Wohnung riecht nach Räucherstäbchen und Zigarren. Neben einer Chaiselongue steht dreckiges Geschirr auf dem Boden. Manuskriptseiten stapeln sich auf dem Sekretär und liegen verstreut auf dem Teppich herum. Über dem Kamin hängt ein Gemälde, das eine nackte Sklavin in einem Harem zeigt. Auf dem Tisch steht eine Fotografie von du Paty mit seiner adeligen neuen Frau Marie de Champlouis. Er hat sie kurz vor Beginn der Dreyfus-Affäre geheiratet. Auf dem Bild hält sie einen Säugling im Taufkleid im Arm.
»Dann
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