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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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herumzupfte, spielte seine Rolle als widerwilliger Zeuge derart virtuos, dass Demange wohl darauf spekulierte, Henrys Aussage werde zu Dreyfus’ Vorteil sein.
    »Major Henry, das Gericht wurde darüber unterrichtet, dass Ihre gestrige Zeugenaussage nicht umfassend war«, sagte Maurel streng. »Sie haben es versäumt, uns über eine frühere Untersuchung bezüglich eines Spions im Generalstab zu informieren. Ist das korrekt?«
    »Das stimmt, Herr Vorsitzender«, murmelte Henry.
    »Sprechen Sie lauter, Herr Major! Wir können Sie nicht verstehen!«
    »Ja, das stimmt«, sagte Henry laut. Er schaute zu den Richtern auf. In seinem Blick lag eine Art trotziger Rechtfertigung. »Ich wollte nicht mehr geheime Informationen preisgeben als unbedingt notwendig.«
    »Dann erzählen Sie uns jetzt die Wahrheit, wenn ich bitten darf.«
    Henry seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Also gut, wenn das Gericht darauf besteht«, sagte er. »Es war im März dieses Jahres. Eine ehrenwerte Person – eine sehr ehrenwerte Person – informierte uns darüber, dass ein Spion aus dem Generalstab Geheimnisse an eine fremde Macht weitergibt. Im Juni wiederholte er die Warnung mir gegenüber persönlich, und diesmal erzählte er Details.« Henry hielt inne.
    »Weiter, Herr Major.«
    »Er sagte, dass der Verräter in der Zweiten Abteilung sitzt.« Henry drehte sich um und zeigte auf Dreyfus. »Der Verräter ist dieser Mann!«
    Die Beschuldigung explodierte in dem kleinen Raum wie eine Granate. Dreyfus, der bislang eine fast unmenschliche Ruhe ausgestrahlt hatte, sprang auf, um gegen die hinterhältige Attacke zu protestieren. Sein blasses Gesicht bebte vor Zorn. »Herr Vorsitzender, ich verlange, den Namen dieses Informanten zu erfahren!«
    Maurel schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. »Angeklagter, setzen Sie sich!«
    Demange packte seinen Mandanten am Rücken des Uniformrocks und versuchte ihn auf den Stuhl ziehen. »Überlassen Sie das mir, Herr Hauptmann«, hörte ich ihn flüstern. »Dafür bezahlen Sie mich.« Widerwillig setzte sich Dreyfus. Demange stand auf. »Herr Vorsitzender, das ist eine Aus sage auf Hörensagen«, sagte er. »Ein Anschlag auf das Recht. Die Verteidigung fordert mit Nachdruck, dass dieser Informant aufgerufen wird, damit er ins Kreuzverhör genommen werden kann. Sonst hat nichts von dem eben Gesagten irgendeinen juristischen Wert. Herr Major, Sie müssen uns zumindest den Namen dieses Mannes nennen.«
    Henry schaute ihn geringschätzig an. »Offensichtlich verstehen Sie nichts von Geheimdiensttätigkeit, Maître Demange!« Er schwenkte seine Mütze. »Im Kopf eines Offiziers befinden sich Geheimnisse, von denen nicht einmal seine Mütze etwas wissen darf!«
    Dreyfus sprang wieder auf. »Das ist ungeheuerlich!« Wieder rief Maurels Richterhammer ihn zur Ordnung.
    »Major Henry«, sagte Maurel. »Wir verlangen nicht, dass Sie den Namen nennen, aber versichern Sie bei Ihrer Ehre, dass es sich bei dem verräterischen Offizier um Hauptmann Dreyfus handelt?«
    Henry hob langsam die Hand und zeigte mit seinem dicken, stummelartigen Zeigefinger auf das Bild Christi über den Köpfen der Richter. Mit der inbrünstigen Stimme eines Priesters verkündete er: »Ich schwöre es!«
    •
    Am Abend schilderte ich Mercier den Wortwechsel.
    »Das hört sich ja ziemlich dramatisch an«, sagte er.
    »Ich glaube, man kann mit Sicherheit sagen, sollte Major Henry jemals aus der Armee ausscheiden, dass ihn die Comédie-Française mit Handkuss nimmt.«
    »Und, hatte seine Zeugenaussage den erwünschten Effekt?«
    »Was das Theatralische angeht, war das erste Klasse. Ob das auch nach juristischen Maßstäben gilt, ist eine andere Frage.«
    Der Minister ließ sich tief in seinen Sessel zurücksinken und legte die Fingerspitzen aneinander. Er grübelte. »Welche Zeugen sind morgen dran?«
    »Am Vormittag der Schriftsachverständige Bertillon, am Nachmittag Zeugen der Verteidigung, die Dreyfus’ guten Charakter beglaubigen sollen.«
    »Wer?«
    »Freunde der Familie – ein Geschäftsmann, ein Arzt, der Oberrabbiner von Paris …«
    »Großer Gott!«, rief Mercier. Das war das erste Mal, dass er in meiner Gegenwart Emotionen zeigte. »Das ist doch ab surd! Können Sie sich vorstellen, dass die Deutschen einen derartigen Zirkus zulassen würden? Der Kaiser würde einen Verräter in seiner Armee einfach an die Wand stellen lassen!« Er stand ruckartig auf und ging zum Kamin. »Das ist genau einer der Gründe, warum wir 70

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