Intrige (German Edition)
verloren haben. Diese radikale Härte, die geht uns völlig ab.« Er nahm den Schürhaken und stocherte erbittert in den Kohlen herum. Orange Funken wirbelten in den Rauchfang. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also hielt ich den Mund. Ich muss einräumen, dass ich sein Dilemma verstehen konnte. Er kämpfte eine Schlacht auf Leben und Tod, konnte aber seine besten Truppen nicht einsetzen. Er schaute immer noch in die Flammen, und erst nach einer Weile sprach er mit ruhiger Stimme weiter. »Oberst Sandherr hat eine Akte für das Kriegsgericht zusammengestellt. Ich habe sie gesehen. Boisdeffre auch. Sie beweist zweifelsfrei das Aus maß der von Dreyfus begangenen Verbrechen. Was soll ich Ihrer Meinung nach damit anstellen?«
»Zeigen Sie sie dem Gericht«, sagte ich, ohne zu zögern.
»Das geht nicht – dann müssten wir sie auch Dreyfus zeigen. Wir könnten sie vielleicht den Richtern zeigen, vertraulich, damit sie erkennen, womit wir es hier zu tun haben.«
»Dann würde ich das tun.«
Er schaute mich über die Schulter an. »Obwohl das gegen alle rechtlichen Verfahrensregeln verstößt?«
»Ich kann nur sagen, wenn Sie es nicht tun, dann laufen Sie Gefahr, dass er freigesprochen wird. Unter diesen Umständen würde mancher sogar sagen, es ist Ihre Pflicht.«
Ich erzählte ihm, was er hören wollte. Nicht dass das den Ausschlag gegeben hätte. Er hätte es sowieso getan. Als ich ging, stocherte er immer noch im Feuer herum.
Am nächsten Morgen machte Bertillon seine Aussage. Er betrat den Raum mit einem Stapel Tabellen und Handschriftenproben, die er an die Richter, Verteidiger und Ankläger verteilte. Er baute eine Staffelei mit einem komplizierten Schaubild voller Pfeile auf. »Zwei Schriftsachverständige behaupten, dass Dreyfus den Bordereau geschrieben hat«, sagte er. »Zwei verweisen auf Unstimmigkeiten und schließen daraus, dass er es nicht geschrieben hat. Ich werde jetzt die beiden unterschiedlichen Standpunkte zusammenführen, Herr Vorsitzender.«
Er ging ständig in dem beengten Raum hin und her, düster und behaart, wie ein kleiner Affe in einem Käfig. Er sprach sehr schnell. Gelegentlich zeigte er auf das Schaubild.
»Meine Herren, Sie werden sehen, dass ich ein Raster aus senkrechten und horizontalen Linien im Abstand von jeweils fünf Millimetern über den Bordereau gelegt habe. Was sehen wir? Wir sehen, dass Wörter, die zweimal auftauchen – Manöver, Modifizierung, Anordnung, Abschriften –, alle innerhalb eines Millimeters in exakt dem gleichen Teil der von mir aufgezeichneten Quadrate beginnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei einem der Wörter der Fall ist, liegt bei eins zu fünf. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei allen Wörtern der Fall ist, bei sechzehn zu zehntausend. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei allen anderen von mir untersuchten Wörtern der Fall ist, bei eins zu einer Million! Folgerung: Das ist bei einem unbefangen geschrie benen Schriftstück unmöglich. Folgerung: Der Bordereau ist gefälscht.
Frage: Wer hat ihn gefälscht und warum? Antwort: Schauen Sie sich noch einmal die mehrsilbigen Wörter an, die im Bordereau zweimal vorkommen – Manöver und Modifizierung beispielsweise. Wenn Sie das eine Wort über das an dere legen, sehen Sie, dass die Anfänge deckungsgleich sind, die Enden aber nicht. Aber wenn Sie das Wort, das im Text zuerst auftaucht, eineinviertel Millimeter nach rechts schieben, dann sind die Enden auch deckungsgleich. Die Handschriftenproben von Alfred Dreyfus, die mir vom Kriegs ministerium zur Verfügung gestellt wurden, weisen exakt die gleichen Besonderheiten auf! Und was die Unterschiede zwischen der Handschrift des Angeklagten und der im Bordereau betrifft, am offensichtlichsten beim kleinen o und dem Doppel-s, können Sie sich mein Erstaunen vorstellen, als ich herausfand, dass genau die gleichen Buchstabenausformungen auch in Briefen auftauchen, die von der Ehefrau des Angeklagten und dessen Bruder geschrieben wurden! Fünf Millimeter Gitternetzstruktur, zwölf Komma fünf Zen timeter Schablonengröße, eineinviertel Millimeter Über lappung. Immer das Gleiche – immer – immer! Abschließende Folgerung: Um nicht entlarvt zu werden, fälschte Dreyfus die eigene Handschrift, indem er sie durch Buchstabenausformungen modifizierte, die er von Familienmitgliedern übernahm!«
Dreyfus unterbrach ihn. »Der Bordereau muss also von mir stammen, weil die Schrift meiner ähnelt und sie ihr gleichzeitig nicht
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