Intrige (German Edition)
in den Gerichtssaal zu lassen. Ich drängelte mich durch die Menge und ging nach oben.
Um neun begann der letzte Verhandlungstag. Jeder der sieben Richter erhielt ein Vergrößerungsglas, eine Kopie des Bordereaus und eine Handschriftenprobe von Dreyfus. Bris set hielt das endlose Plädoyer der Anklage. »Schauen Sie durch das Vergrößerungsglas«, sagte er zu den Richtern. »Sie werden zweifelsfrei erkennen, dass Dreyfus den Bordereau geschrieben hat.« Das Gericht zog sich in die Mittagspause zurück. Am Nachmittag zündete ein Diener die Gaslampen an, und Demange begann in der einbrechenden Dämmerung mit der Schlussrede für die Verteidigung. »Wo ist der Beweis?«, fragte er. »Nicht der Hauch eines konkreten Beweises verbindet meinen Mandanten mit dem Verbrechen.« Maurel gab Dreyfus die Gelegenheit für eine kurze Stellung nahme. Er sprach mit starr geradeaus gerichtetem Blick. »Ich bin Franzose und insbesondere Elsässer: Ich bin kein Landesverräter.« Damit war die Sitzung beendet. Dreyfus wurde bis zur Verkündung des Urteils in einen anderen Teil des Gebäudes geführt.
Als sich die Richter zurückgezogen hatten, ging ich hinaus in den Innenhof, um der bedrückenden Atmosphäre zu entkommen. Es war kurz vor sechs und elend kalt. Im trüben Licht der Gaslaternen stand eine Kompanie Soldaten aus der Pariser Garnison. Um diese Zeit hatten die Militär behörden die Tore zur Straße schon geschlossen. Ich kam mir vor wie in einer belagerten Festung. Ich konnte die Menschen hinter der hohen Mauer hören, wie sie redeten und in der Dunkelheit hin und her gingen. Ich rauchte eine Zigarette. Reporter unterhielten sich: »Haben Sie gesehen, wie Dreyfus bei jedem zweiten Schritt gestolpert ist, als sie ihn die Treppe hinuntergeführt haben? Der jämmerliche Bursche weiß gar nicht, wo er ist.« – »Hoffentlich sind sie rechtzeitig für die erste Ausgabe fertig.« – »Keine Angst, die wollen alle nach Hause zum Abendessen.«
Um halb sieben verkündete ein Adjutant der Richter, dass die Türen zum Gerichtsaal wieder geöffnet seien. Sofort setzte ein Ansturm auf die besten Plätze ein. Ich folgte den Reportern in den ersten Stock. Gonse, Henry, du Paty und Gribelin standen in einer Reihe neben der Tür. Die nervöse Anspannung war ihnen anzusehen. Im Gesicht waren sie fast so weiß wie die Wand hinter ihnen. Wir nickten uns zu, aber keiner sagte ein Wort. Ich setzte mich auf meinen Platz und zückte zum letzten Mal das Notizbuch. Es waren fast hundert Personen, die sich in dem engen Raum drängten, die aber kaum einen Laut von sich gaben. Die Stille fühlte sich an, als befände man sich unter Wasser. Ein physischer Druck lastete auf Lunge und Trommelfellen. Ich wollte unbedingt, dass das aufhörte. Um sieben erklang ein lauter Befehl aus dem Gang. »Das Gewehr über! Präsentiert das Gewehr!« Dann stampften Stiefel. Die Richter mit Maurel an der Spitze betraten im Gänsemarsch den Raum.
»Erheben Sie sich!«
Der Gerichtsdiener Vallecalle verlas das Urteil. »Im Namen des französischen Volkes«, sagte er, worauf alle sieben Richter zum Salut die Hand an ihre Mütze hoben. »Das erste permanente Kriegsgericht der Militärregierung von Paris verkündet nach Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit in öffentlicher Sitzung folgendes Urteil …« Als er das Wort schuldig aussprach, rief jemand im Saal: »Es lebe Frankreich!« Die Reporter stürzten aus dem Raum.
»Maître Demange, Sie können den Verurteilten benachrichtigen«, sagte Maurel.
Der Anwalt rührte sich nicht. Er hatte den Kopf in die Hände gelegt. Er weinte.
Ein seltsamer Lärm drang von außen herein – ein komisches Prasseln und Heulen. Erst hielt ich es für Regen und Wind. Dann erkannte ich, dass es die Menge auf der Straße war, die auf das Urteil mit Beifall und Jubel reagierte. »Nieder mit den Juden! Tod dem jüdischen Verräter!«
•
»Major Picquart für den Kriegsminister …«
An der Wache vorbei. Durch den Innenhof. Ins Entree. Die Treppe hoch.
Mercier stand in voller Paradeuniform in der Mitte seines Büros. Die Brust war ein einziger Panzer aus Orden und Ehrenzeichen. Neben ihm stand seine englische Frau. Sie trug ein blaues Abendkleid aus Samt und eine Diamantenhalskette. Die beiden sahen sehr klein und zierlich aus, wie ein Paar Kleiderpuppen in einem historischen Gemälde.
Ich war vom Laufen außer Atem und schwitzte trotz der Kälte. »Schuldig«, stammelte ich keuchend. »Lebensläng-liche Deportation an
Weitere Kostenlose Bücher