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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ähnelt?«
    »Exakt!«
    »Wie soll man Sie dann jemals widerlegen?«
    Ein guter Punkt. Ich musste ein Lächeln unterdrücken. Auch wenn Bertillon auf Dreyfus und zugegebenermaßen auch auf mich wie ein Hochstapler gewirkt hatte, so konnte ich doch sehen, dass er die Richter beeindruckt hatte. Sie waren Soldaten. Sie mochten Fakten, Schaubilder, linierte Quadrate und Worte wie Gitternetzstruktur. Eins zu einer Million! Das war etwas Statistisches, was sie begreifen konnten.
    In der Mittagspause kam du Paty im Gang auf mich zu. Er rieb sich die Hände. »Scheint ganz so, dass Bertillon bei einigen von den Richtern gut angekommen ist. Ich glaube, jetzt haben wir den Schurken endlich da, wo wir ihn haben wollen. Was werden Sie dem Minister berichten?«
    »Dass mir Bertillon wie ein Wirrkopf vorkam und dass ich mir immer noch nicht sicher bin, ob die Chancen auf eine Verurteilung besser als unentschieden stehen.«
    »Der Minister hat mir erzählt, dass Sie ein Pessimist sind. Als Außenstehender lamentiert es sich immer leichter.« Unter seinem Arm steckte ein großer, brauner Briefumschlag. Er gab ihn mir. »Für Sie. Von General Mercier.«
    Der Umschlag war nicht schwer. Vielleicht ein Dutzend Blatt Papier. In der rechten oberen Ecke stand ein mit blauem Bleistift geschriebenes D.
    »Was soll ich damit machen?«, fragte ich.
    »Noch heute so diskret wie möglich dem Vorsitzenden des Gerichts aushändigen.«
    »Und was ist das?«
    »Das brauchen Sie nicht zu wissen. Geben Sie es ihm ein fach, Picquart, das reicht. Und versuchen Sie einmal, ein bisschen weniger defätistisch zu sein.«
    Ich nahm den Umschlag mit in die Nachmittagssitzung. Ich wusste nicht, wohin damit. Unter meinen Stuhl? Daneben? Ich ließ ihn schließlich einfach auf den Knien liegen und saß unbehaglich da, während die Verteidigung ihre Leu mundszeugen aufrief – eine Handvoll Offiziere, einen Industriellen, einen Arzt und den Oberrabbiner von Paris in seinem hebräischen Gewand. Oberst Maurel, den eindeutig seine Hämorrhoiden plagten, fertigte sie barsch ab, vor allem den Rabbiner.
    »Ihr Name?«
    »Dreyfuss.«
    »Dreyfus? Sind Sie ein Verwandter?«
    »Nein. Dreyfuss mit zwei s. Ich bin der Oberrabbiner von Paris.«
    »Faszinierend. Was wissen Sie über den Fall?«
    »Nichts. Aber ich kenne die Familie des Angeklagten schon sehr lange, und ich halte sie für eine rechtschaffene Familie …«
    Während der gesamten Aussage des Rabbiners rutschte Maurel auf seinem Sitz herum. »Danke. Der Zeuge darf wegtreten. Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen. Morgen hören wir die Schlussplädoyers. Die Sitzung ist geschlossen. Bringen Sie den Angeklagten zurück in seine Zelle.«
    Dreyfus nahm seine Mütze, stand auf, salutierte und wurde aus dem Raum geführt. Ich wartete, bis die Richter sich erhoben, um das Podium zu verlassen, und trat dann auf Maurel zu. »Verzeihung, Herr Oberst«, sagte ich leise. »Ich möchte Ihnen etwas vom Kriegsminister übergeben.«
    Maurel schaute mich gereizt an. Er war ein kleiner, gebückter Mann mit grüngrauer Gesichtsfarbe. »Ah, richtig, Herr Major«, sagte er. »Darauf habe ich schon gewartet.« Er schob den Umschlag zwischen seine anderen Unterlagen und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass Dreyfus’ Anwalt mich musterte. Demange runzelte sie Stirn und schürzte die Lippen. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde mich zur Rede stellen. Ich steckte mein Notizbuch ein, nickte ihm zu und ging schnurstracks an ihm vorbei.
    »Ich glaube, wir haben richtig gehandelt«, sagte Mercier, als ich ihm später davon berichtete.
    »Am Ende ist es die Aufgabe der Richter, das Material zu bewerten«, sagte ich. »Sie können ihnen nur die Fakten liefern.«
    »Ich brauche Sie nicht eigens daran zu erinnern, dass niemand außerhalb unserer kleinen Gruppe davon erfahren sollte.« Eigentlich rechnete ich damit, dass er mir sagen würde, was in der Akte stehe, stattdessen nahm er seinen Stift und wandte sich wieder seinen Papieren zu. »Und unterrichten Sie General Boisdeffre davon, dass ich wie abgesprochen gehandelt habe«, fügte er nur noch hinzu.
    Als ich am nächsten Morgen in die Rue du Cherche-Midi kam, hatte sich schon eine kleine Menschenmenge versammelt. Zusätzliche Gendarmen bewachten die Tore, falls es Ärger geben sollte. Im Innern des Gebäudes warteten doppelt so viele Reporter wie üblich. Einer erzählte mir, dass man ihnen versprochen habe, sie zur Urteilsverkündung

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